Giselle (Daria Suzi) und Corps de ballet Frauen

Frei von Freude, Lust und Heiterkeit

Silvana Schröder: Giselle

Theater:Theater Erfurt, Premiere:10.11.2018 (UA)Musikalische Leitung:Takahiro NagasakiKomponist(in):Adolphe Adam

Giselle ist einsam. Das hellblonde Mädchen im fleischfarbenen Korsett mit dem gewalttätigen Zärtlichkeitsbedürfnis hat niemanden, der sie liebt. Denn Albrecht (Filip Kvacák) bleibt seiner Bathilde (Carolina Micone) treu – und deshalb führt sich die zarte Giselle auf wie ein Elefant im Porzellanladen. Offensichtlich ist sie eine Borderlinerin, zersticht sich die Füße. Selbstbestrafung total. Jetzt kann sie nicht einmal mehr das, was ihr neben der infantilen, besitzergreifenden Liebe das Wichtigste im Leben ist: tanzen!

Silvana Schröder unternimmt mit ihrer Neudeutung eine radikale Inventur an dem erzromantischen Ballett von Jules Perrot, Jean Coralli und Marius Petipa. Nicht nur an den Bearbeitern der alten Choreografien, denn sie greift auch mutig hinweg über die Psychologisierung, mit der Mats Ek den schönsten, weil dramaturgisch stärksten weißen Akt des klassischen Balletts in eine psychiatrische Heilanstalt verlegt hatte. Die gertenschlank hochgewachsene Daria Suzi vollbringt den ganzen Abend das extreme Kunststück, Giselle nicht als kleine, zerbrechliche, sondern als wilde und ebenso besessene wie aggressive Figur erscheinen zu lassen. Aber bei Silvana Schröder zerbricht das offenbar bürgerliche Mädchen nicht daran, weil ihr so Grausames angetan wurde. Im Gegenteil: Alle sind in ihrem weißen Zimmer mit dem riesigen Schrank, dem kuschelweichen Teddy und der sich auf der Spieluhr drehenden Primaballerina außerordentlich lieb zu ihr, verständnisvoll und zugewandt. Nur Giselles (Über-)Mutter reißt schwarze Löcher in die sterile Szenerie und entpuppt sich im zweiten Teil, üppig bedacht mit zwei aus der Handlung fallenden Solovariationen, als Geisterkönigin Myrtha: Ihr (Alina Dogodina) hat Silvana Schröder die zweite Hauptrolle zugedacht, nicht den hier marginalen und vor allem als Hasskatalysatoren dienlichen Männern. Dem schwarzem Gefolge Myrthas en travestie tritt später ein Tross von mindestens ebenso verhärmten Kopien Giselles entgegen, erfüllt mit kämpferischem Leidensdruck.

Zur Koproduktion mit dem Theater Erfurt rückt das Thüringer Staatsballett dieser hier wenig poetischen „pièce de bataille“ in ganz großer Besetzung an. Damen- und Herrentruppe sind mit einem Dutzend Elevinnen und Eleven verstärkt. Takahiro Nagasaki, der aus dem musikalischen Stab des Theaters Altenburg-Gera mitgekommen ist, entlockt der Partitur in der modifizierbaren Partitur-Bearbeitung von David Garforth mit dem Philharmonischen Orchester Erfurt sensibel atmende und pulsierend geschmeidige Töne. Doch Silvana Schröder vernachlässigt fünfzig Prozent ihrer Kompanie in dieser Uraufführung, wenn sie im ersten Teil alle Ensembles mit Herrenbeteiligung mit Ausnahme von Sekundenauftritten unerbittlich einem brutalen „Er-liebt-mich-nicht-Kammerspiel“ opfert und aus den poetisch männermordenden Geistertänzen ein dumpf-düster-depressives Drama von Frauen unter sich meißelt: „Bernarda Albas Haus“ im nicht vorhandenen Zauberwald! Hilarion (Vinicius Leme), der hier statt eines zupackenden Vollmachos der sensible bis elegante Schwestern-Versteher ist, kommt als Opfer Nummer Eins vor Giselles mehr furiose als feenhafte Doppelgängerinnen. Dann folgt als Nummer Zwei Albrecht, der sich nicht einmal für die kleinste übergriffige Berührung schuldig fühlen muss. Seine Strafe vor dem Sterben: Ihm rammt Giselle wie erst sich selbst einen schweren Kammgriff in die Füße. Der Schluss gerinnt zur Karikatur, treibt Femme-Fatale-Visionen und Bilder aus dem kollektiven Kulturgedächtnis ins Schachmatt: Giselle setzt sich auf den toten Albrecht, bedeckt ihn vom Scheitel bis zu den Sohlen mit ihrem Tüllrock und kämmt ihr langes goldenes Haar. Giselle Lore Ley landet also im Postfeminismus, allerdings ohne #metoo.

Da erhält Heinrich Heines „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ das noch fettere Fragezeichen: Denn Silvana Schröder weiß mit Tanz und Bewegungen packend stark zu charakterisieren. Daria Suzi hat im Kinderzimmer ein hochindividuelles Bewegungsvokabular mit schillernder Kongruenz aus klassischem Spitzentanz und fließendem Modern Dance. Das ist tatsächlich eine Verrückte ganz ohne Attribute von Bühnenwahnsinn. Sie ähnelt mehr einer Figur von Stephen King als von Edgar Allen Poe. Schön bizarr gerät ein „Pas de trois“ von Mutter Myrtha, Giselle und dem Teddybär(-Requisit) mit überdeutlichen Beischlaf-Assoziationen. Sinnes-, Verstandes-, Aktionsebenen verschränken sich im Wahnwitz. Doch auch Verena Hemmerlein liefert keine konkrete Zeitangabe in ihrem nach der Pause um 90 Grad gewendeten weißen Raum und die romantischen Zitate an der Gegenwart spiegelnden Kostümen.

Das Orchester wiederholt Abschnitte aus dem großen Pas de deux Giselles und Albrechts oder die bereits von Adolphe Adam erinnerungsmotivisch aufbereiteten Sequenzen zum Blumenorakel und Giselles Tanzlust. In der Parallelwelt, wohin Giselle entgleitet, speisen sich die Szenen ihrer Doubles von zitierend bis zu kanonartig zerrissenen Sequenzen aus der Choreographie Marius Petipas. Leid ohne Ursache, denn es gibt nach der Ausgrenzung der hier nur korrekt agierenden Männerfiguren keinen Grund für Giselles Rachemaschinerie.

Der große Applaus überlagert die Ratlosigkeit vor dieser Deutung, mit der Silvana Schröder die archetypische Schwarz-Weiß-Malerei des Sujets zwischen dem männlichen Verführer und dem sich aus dem Jenseits rächenden Opfer überwunden hat. Radikale Ansätze beinhalten Risiken: Die Frauen tanzen allesamt großartig an diesem Abend. Und auch die Männer, wenn sie das dürfen. Aber wer hätte gedacht, dass der Tod des Märchenprinzen und dessen Rechtfertigung eine Solidargemeinschaft leidender Frauen nicht zwangsläufig freudiger und zufriedener macht? Oder anders gefragt: Ist echte Romantik ganz ohne Spannungen zwischen den Geschlechtern überhaupt möglich? Silvana Schröders neue „Giselle“ wirkt nämlich noch grausamer als die alte, denn in dieser folgte Leid auf das immerhin kurze trügerische Glück. In Erfurt, Gera und Altenburg ist das streckenweise schwer nachvollziehbare Desaster dagegen vollkommen frei von Freude, Lust und Heiterkeit. Dieser Masochismus enthüllt sich allerdings in glänzender tänzerischer Aufstellung.