Szene aus "Eine Hand voller Sterne" am JES in Stuttgart

Eine Geschichte aus Syrien

Mia Göhring / Anna Renner:: Eine Hand voller Sterne

Theater:Junges Ensemble Stuttgart, Premiere:08.04.2018Vorlage:Rafik SchamiRegie:Anna Renner

Anna Renner inszeniert für das Stuttgarter JES „Eine Hand voller Sterne“

Ganz schön mutig, was das JES Stuttgart in dieser Spielzeit wagt: Es versucht junge Menschen auf das Kinder- und Jugendtheater neugierig zu machen. Nicht nur junge Menschen als Zuschauer, sondern auch junge Künstler und Künstlerinnen. Dazu geht man Kooperationen ein mit den Ausbildungsstätten vor Ort, zu Beginn der Spielzeit mit der Hochschule in Stuttgart und nun mit der AdK Ludwigsburg. Seinen ganzen Apparat und den wundervollen Schauspieler Gerd Ritter stellt das JES Anna Renner für ihre Regieabschlussarbeit zur Verfügung. Und es hat sich gelohnt, die junge Anna Renner nutzt ihre Chance, sie bedient sich des Apparats, um eine freie Produktion herauszubringen, die für Kinder ein bedrängendes politisches Thema erzählt. Sehr direkt. Und dabei die Phantasiemitarbeit der Zuschauer herausfordert. Das beginnt schon mit der Vorstellung der Schauspieler-Biografien im Foyer, die dann die Zuschauer in den Keller zwei Stockwerke höher führen. Eine gelungene Einführung in diesen außergewöhnlichen Theaterabend.

Wir befinden uns in Syrien, genauer in einem Kellerraum eines ausgebombten Hauses, Löcher kunden von Granateneinschlägen, wer aber nun ein naturalistisches Ambiente erwarten würde, wird enttäuscht. Nirgendwo wird unterschlagen, dass wir uns im Theater befinden. Die ganz in weiß gehaltene Bühne von Ben Gräbner und Hannah Ebenau arbeitet mit Spanplatten und kleinen Würfeln, manchmal zerstört, und einem großen nach drei Seiten hin großen offenen Würfel, der etwa als Schlafstätte dient. Wenige Requisiten, die an orientalische Kultgegenstände erinnern, werden ganz unterschiedlich in Gebrauch genommen.

Anna Renner lässt sich Zeit. Wenn auch im Sound bedrohliche Geräuschkulissen aufgebaut werden, halten Vater und Sohn unerschütterlich an ihren Alltagsritualen fest, die morgendliche Gesichtswäsche, das Ausfegen des Raums. Es geht gerade um diesen Alltag wie z.B. die Schwierigkeit Brot zu besorgen. Aber dann findet der Sohn ein Buch, wie sich herausstellen wird, ein Buch seines Großvaters Rafik, der darin seine Jugend erzählt, wie er nie Bäcker werden wollte, sondern Journalist. So gelangt „Eine Hand voller Sterne“ von Rafik Schami, in dem ein namenloser Ich-Erzähler Tagebuch über seine Jugenderlebnisse in Damaskus notiert, in die Handlung. Verblüffend, wie aktuell der 1987 erschienene Roman geblieben ist. Yahia Daghestani, der vor zweieinhalb Jahren aus der Nähe von Damaskus nach Deutschland geflohen ist, liest den Text auf Arabisch vor. Er macht das sympathisch, hält ständig Augenkontakt zum Publikum und versucht es kumpelhaft im Spiel gegen seinen Vater einzubeziehen.

Wenn auch viele arabisch gesprochene und gelesene Texte unübersetzt bleiben, weil sie aus der Situation heraus verständlich sind, entwickelt Renner eine weitere Ebene mit dem Figurenspieler Robert Buschbacher, der die Texte von Schami spielend übersetzt, aus einem Mantel und/oder eine kleinen silbernen Teekanne Figuren wie Onkel Salim baut, die im Text zwar genannt werden, aber nicht auf der Bühne auftauchen. Oft agieren diese auch als Schattenspiel, das zum Zwiegespräch mit Ya’rob, wie der Junge heißt, wird: Der Vater, von Gerd Ritter im Wechsel von leisen und lauten Tönen gespielt, ist in der Stadt unterwegs, um Brot zu besorgen, der Junge allein das Buch lesend. Dabei werden die Figuren des Tagebuchs lebendig. Allerdings wird die Rolle von Buschbacher nicht genau definiert, sie bleibt in einem „magischen Zwischen“, am Ende dann wird der Figurenspieler zum Freund Mahmud. Es gibt noch eine weitere geheimnisvolle Figur, der Griesgram, der sich dann zum Mädchen, nein, nicht als Nadia, sondern als Amal verwandelt, die mit ihrer Geschichte von der roten Rose am Ende den Vater, der nach einem Streit entschwunden ist, ihn wieder zurück „zaubern“ kann, von Olivia Ronzani zunächst ängstlich zusammengekauert gespielt, aber dann sich immer mehr in ein wunderbar spielendes Kind verwandelt.

Auf kluge Weise gelingt es Anna Renner, die auch zusammen mit Mia Göhring die Textfassung entwickelt hat, Gegenwart und Vergangenheit sich gegenseitig bespiegeln zu lassen. Aber mehr noch gelingt es ihr, ohne den bedrohlichen Hintergrund zu unterschlagen, zu zeigen, welche Kraft im Spielen und in der Literatur liegen, um überleben zu können. Und das erzählt sie mit großer Leichtigkeit. Da entwickelt jemand eine eigene künstlerische Handschrift, in der Authentizität wie Schattenspiel ihren Platz finden.