Foto: Stephan Clemens und Björn Ingmar Böske in "Philotas" am Theater Ulm © Marc Lontzek/Theater Ulm
Text:Manfred Jahnke, am 2. Oktober 2021
„Philotas“ – dieses 1759 inmitten des Siebenjährigen Krieges (1756 – 1763) entstandene, nicht mehr sehr häufig gespielte Trauerspiel von Lessing – setzt sich mit den Heldenbildern jener Zeit auseinander. Philotas bedrängt seinen Vater endlich in den Krieg ziehen zu dürfen, prescht dann selbst bei seinem ersten Einsatz zu weit vor und wird von den Feinden verwundet festgesetzt. Mit seiner Gefangennahme kann er sich nicht abfinden. Er sucht den Tod, den Heldentod. Obwohl sich Alternativen zeigen, will er mit der Scham nicht mehr leben.
Lessing hat mit Philotas eine spannende Figur geschaffen, die nicht mehr Kind, aber auch noch nicht Mann ist. Er ist ein pubertierender Jüngling, der nur sich selbst sieht. Ein Egomane, dem das „Ich“ flott über die Lippen geht und dem alle Fähigkeit zur Empathie abgeht. Er denkt nur an sich, nicht an seinen Vater. Er hört auch denjenigen unter den Feinden nicht zu, die es mit ihm gut meinen, wie Strato oder König Aridäus. Lessings verortet sein Stück zu Beginn zwischen Traum und Wirklichkeit: Philotas muss erst einmal für sich seine Lage aufarbeiten. Wie sehr es Lessing dabei um die Darstellung eines Reflexionsprozesses geht, deuten die Monologe an, die dieses Stück prägen.
Im Podium des Theaters Ulm umrundet Björn Ingmar Böske als Philotas mehrfach den Raum. Ständig steigert er das Tempo, um dann keuchend den ersten Satz „So bin ich wirklich gefangen?“ herauszustoßen. Die Szenerie, die Katrin Kersten geschaffen hat, nutzt alle technischen Möglichkeiten des Podiums, eine Rundumbühne, auf der das Publikum das Geschehen auf Drehstühlen verfolgt. Schwarze Vorhänge, die sehr bald aufgezogen werden, verbergen große Spiegel. Darüber hinaus gibt es eine Filmleinwand und zwei weiße Folien, die später beschriftet werden. Scheinwerfer, ein Stuhlsessel aus durchsichtigem Plexiglas und vor allen Dingen eine Filmkamera auf einem rollenden Stativ ergänzen dieses Bild. Ein wenig lässt dieses szenische Ambiente mit seinen vielen Spiegelungen das Innere eines Kopfes assoziieren. Böske zeigt mit diesem ersten Satz allerdings nicht das Staunen über seine Situation, sondern wirkt verstört, wie er überhaupt seine Figur unruhig im Grundgestus der Empörung ausagiert.
Verdrängte Gefühle
Auch die anderen Figuren lässt die Regie von Mona Kraushaar auftreten, indem sie auf der Rundumbühne im Kreis laufen und dabei schon mal wie der Soldat Parmenio (Stephan Clemens) in den roten Farbtopf greifen – so wie am Schluss auch Philotas –, um die Wunden der Schlacht zu zeigen. Auffällig ist die Personenführung der Regie: Kraushaar lässt die Schauspielerinnen und Schauspieler über große Distanzen handeln. Wenn ein Dialog doch einmal Nähe verlangt, dann kommunizieren Person und Videobild, meist ist Philotas zu sehen, miteinander. Körperliche Berührungen, Umarmungen sind gänzlich ausgeschlossen.
Die Regisseurin führt eine Männergesellschaft vor – Mütter kommen in diesem Text nicht vor –, die vor Nähe zurückschreckt und Emotionen zu verbergen versucht. Sowohl Markus Hottgenroth als Strato, als auch Frank Röder als König Aridäus agieren fast statuarisch, besonnen, überlegen. Ein Mann, voll Sympathie für diesen Jüngling, der nicht einmal dann von seinem Plan ablassen kann, als er erfährt, dass auch der Sohn des Aridäus gefangen wurde, sodass alles auf einen Tausch der Gefangenen hinausläuft und somit ein gutes Ende also in Sichtweite ist. Zum Schluss greift dann auch Philotas zum Topf mit der roten Farbe und nun verliert Aridäus seine Contenance und beginnt zu schreien. Dabei hat er schon im Dialog zuvor die Quintessenz des Stücks formuliert, es gibt kein Heldentum ohne Menschenliebe! An der aber mangelt es Philotas, er liebt in seiner Omnipotenz nur sich und seine Ideen.
Auf dem Cover des Programmheftes ist ein roboterhaftes Wesen mit dem Supermans-Signum und roten Umhang zu sehen. Seine Hände sind erhoben, das Gesicht ohne Augen unterstützt die abwehrende Pose: Flugzeuge beschießen ihn. Die Schussbahnen gehen rechts und links an ihm vorbei. Alles Heldenhafte scheint von ihm gewichen, der Kindertraum vom Superman als großer Held ausgeträumt. Da zeigt sich die Aktualität der Geschichte von Lessing, die durchaus auch im Theater für junge Menschen wieder entdeckt werden könnte – vielleicht nicht ganz so eng am Text wie die Ulmer Aufführung.