Foto: Edward Clugs Choreografie „Source“ am Stuttgarter Ballett © Stuttgarter Ballett
Text:Vesna Mlakar, am 21. Juni 2021
Respekt und Gratulation! Das Stuttgarter Ballett feiert gerade 60 Jahre seines Bestehens. Doppelt so viele wie das Bayerische Staatsballett. Die letzten siebeneinhalb Monate war die Kompanie aber im Lockdown gefangen. Nun scheint das für Tradition und Erneuerung gleichermaßen gerühmte Ensemble „nach einer gefühlten Ewigkeit“ (Intendant Tamas Detrich zu Beginn vor dem Vorhang) schier zu explodieren – an seinem ersten öffentlichen Vorstellungstag im Stuttgarter Opernhaus. Man ist in Topform. Und noch mehr.
Drei hochraffinierte Uraufführungen mit jeweils markanten individuellen Zügen ihrer Autoren werden zugleich quasi aus dem Ärmel geschüttelt. Jede davon beeindruckt nachhaltig auf eigene Art und Weise. Es sind Geburtstagsgeschenke von Christian Spuck, Marco Goecke und Edward Clug: drei international renommierte Choreografen, deren Karriereentwicklung über diverse vorangegangene Kooperationen ganz eng mit den stilistisch vielseitigen Stuttgarter Tänzerinnen und Tänzern in Verbindung steht. Auch wenn die ehemaligen Hauschoreografen Spuck und Goecke bzw. Clug als Stellvertreter für die vielen externen Choreografengäste längst eigene Truppen in Zürich, Hannover und Maribor leiten.
Am Ende verblüfft, wie die Werke sich wechselseitig toppen und trotz ihrer Unterschiedlichkeit miteinander harmonieren. Ohne ein bestimmtes Thema als Klammer treten sie in einen Dialog, verhandeln formstark, sinnlich und überaus stilvoll das Neue in der Ballettkunst. Ganz nebenher wird noch bewiesen, dass Abstraktheit niemals fade, bloß äußerlich oder gar gefühllos sein muss.
Christian Spuck: „Cassiopeia’s Garden“ (Uraufführung)
Den Anfang macht Christian Spucks „Cassiopeia’s Garden“: ein über weite Strecken zu Musik von Bach leises, feingesponnenes und in seiner Düsternis wundersam berührendes Stück für drei Frauen und sechs Männer. Es beginnt verstörend laut mit einem elektroakustischen Urknall und pulsiert auch später wieder zu Elektrobeats von „I Hate Models“. Sobald der Vorhang sich öffnet, blicken wir auf eine Welt, die von Erinnerungen bewohnt zu sein scheint und in der vergangene Ereignisse weiterhin Spuren hinterlassen. Auf dem Bild im Hintergrund prangen schemenhafte, schwarze Umrisse von Bäumen (Bühne: Rufus Didwiszus).
Das erste intensive Duett tanzen zwei Männer, begleitet von einer kratzenden Viola (Salvatore Sciarrino). Dann schälen sich weitere Gestalten hinter umgekippten Tischen und dem Portalrahmen hervor. Was sie auch bewegen mag – ihre Köper umspielen sich zwar, finden aber nie wirklich zusammen. Hier schnellt ein Bein hoch, dort fassen Hände zu und aus Paaren werden Trios. Ab und an stoppt der tänzerische Fluss plötzlich, mitten in einem Move. Oder Tänzer setzen sich einfach hin und verharren. Fast leitmotivisch – zuletzt ganz zum Schluss – legt sich jemand rücklings, den rechten Arm in erster Position vor sich hochgereckt, auf den Boden.
Marco Goecke: „Nachtmerrie“ (Uraufführung)
Marco Goeckes „Nachtmerrie“ („Albtraum“), choreografiert für Mackenzie Brown und Henrik Erikson, ist dagegen auf zehn Minuten kondensierte körperdramatische Poesie. Bevor der Mann zu Keith Jarretts barselig-verträumtem „Budapest Concert“ (Teil XII und XIII) nervös auf die Bühnenmitte zueilt, steigt über der leeren Arena aus Licht (Udo Haberland) eine Nebelwolke gen Himmel. Für den hyperphysischen Vortrag des in die Körper eingeschriebenen Gedichts über das Kriseln, Sich-Aneinander-Klammern und Scheitern einer Beziehung hat Thomas Lempertz den beiden Protagonisten Gürtel aus langen metallischen Haarklammern umgeschnallt.
Passend dazu schnippen die Füße der Tänzer scherengleich auf und zu, ihre angewinkelten Arme und angezogenen Finger werden kratzbürstig eingesetzt. Man rotiert voreinander um die eigene Achse, die Hände wie Zinken einer Gabel rechts und links vom Kopf. Die folgende Trennung ist kurz. Erikson baut sich noch einmal vor seiner vergrämten Partnerin auf und brennt als emotionalen Höhepunkt Streichhölzer ab. Ein letztes Strohfeuer, das musikalisch Lady Gagas Hit „Bad Romance“ trägt und traurig anrührt.
Edward Clug: „Source“ (Uraufführung)
„Source“ des gebürtigen Rumänen Edward Clug dauert ca. 25 Minuten. Als die Musiker und Dirigent Mikhail Agrest ihre Plätze im Orchestergraben einnehmen, jubelt ihnen das Publikum euphorisch zu. Die Produktion will John Cranko feiern, und das unterstreicht wohl auch Milko Lazars „Stuttgart Suite“ – die einzige Auftragskomposition dieses Abends.
Eyecatcher auf der Bühne ist eine weiße, in sich verschlungene Seilinstallation, die sich bald zu drehen beginnt. Sie lässt an einen starken „Schnürlregen“ denken, der die Sicht auf die Tänzer innerhalb des runden Gebildes aus bodenlangen Schnüren und dahinter erst einmal behindert. Im zweiten Teil des Stücks schwebt das Konstrukt dann hoch über den Protagonisten.
Alle Zehn tragen uniforme Trikots – schwarz an Armen und Beinen, der Torso in marmorhaftem Weiß. Clug arbeitet stilistisch und choreografisch bewusst sehr reduziert. Bewegung zerlegt und kombiniert er neu, verschleift oder verschlüsselt dabei nichts. Schwung bleibt Schwung, Hopser Hopser. Das könnte in die Hose gehen, tut es aber nicht. Federführend in dieser Choreografie ist lupenreine Klarheit – von der Beinarbeit bis hin zum Placement und der Ausrichtung der Tänzer im Raum. Manchmal kommt es Clug nur auf Hände an, die gerade noch aus den Kulissen Richtung Bühne ragen. Solche Details verbaut er, gibt jedem Moment einen spezifischen Elan und ergänzt die eigenwillige Textur von „Source“ um Effekte der simplen Multiplikation. Tanzpoetik vom Feinsten!
William Forsythe: „Blake Works I“ (Deutsche Erstaufführung)
Krönung des atemberaubend schönen Premierenabends, in dessen Fokus klar die seit John Cranko kontinuierlich fortgeschriebene Suche nach choreografischer Innovation steht, ist die Deutsche Erstaufführung von William Forsythes etwa halbstündigem Geniestreich „Blake Works I“. Eine raumgreifende, geometrisch durchstrukturierte und dabei ziemlich frei daherkommende Liebeserklärung an die absolute Synchronizität und deren Brechung zu sieben Songs aus dem Album „The Colour in Anything“ des britischen Singer-Songwriters James Blake. 2016 vom Ballett der Pariser Oper uraufgeführt, lassen sie George Balanchines jazzigen Mittelteil „Rubies“ aus dem Abendfüller „Jewels“ geradezu brav erscheinen. Obwohl letzteres Stück – gut dargeboten – ja feuerwerksartig zündet.
Forsythe, einst jung von Marcia Haydée zum ersten Hauschoreografen der Kompanie ernannt, hat sich nach Jahren der Dekonstruktion in seiner vermeintlich federleichten, genau austarierten Spielerei aus klassischem Thrill, kess wippenden Schritten und frechen Hüften selbst übertroffen. Hyperdynamisch lässt er 21 Interpreten in hellblauen Trikots ihren Spaß am Können zelebrieren. Lediglich der Erste Solist Jason Reilly begegnet seiner Partnerin Elisa Badenes einmal in Hemd, Hose und schwarzen Schuhen.
Sie wiederum wirbelt im Song „I hope my life“ solistisch dermaßen fantastisch umher, dass man sie glatt für eine virtuelle Superballerina aus einem überzogenen Animationsfilm halten könnte. Paare, Trios und vom ersten Moment an die gesamte Gruppe überwältigen mit einer puren Freude am Tanz, die Hyo-Jung Kang und David Moore im finalen Pas de deux „F.O.R.E.V.E.R“ in einer schlichten letzten Positionierung ihrer gerundeten Arme Richtung Publikum ausklingen lassen.
„New/Works“ als Gesamttitel des Abends fasst – stark untertrieben – nüchtern zusammen, was den Zuschauer zweieinhalb Stunden lang völlig zu berauschen vermag. Danach verlässt man das Haus wie auf Wolken – gefühlt nach nur kurzen ästhetisch wie technisch höchst aufgeladenen Minuten exponierter Zartheit (Spuck), körperdramatischer Lyrik (Goecke), einem Guss ungewöhnlicher Motorik Marke Edeldesignmechanik (Clug) und nonchalant virtuos-brillanter Spitzentanzpräzision (Forsythe). Auf dem Absatz möchte man gleich wieder kehrtmachen, um jedes der in sich so reichen Stücke sofort noch einmal zu erleben.