Gemeinsam mit dem Renegade-Ensemble rekonstruierte Susanne Linke ihr Stück "Ruhr-Ort" (UA 1991) in den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses

Ein Denkmal für die Maloche

Susanne Linke: Ruhr-Ort

Theater:Schauspielhaus Bochum, Premiere:24.01.2014

Wer vor Beginn der „Ruhr-Ort“-Premiere in den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum die putzigen maigrünen Ohrstöpsel im Bonbonglas auf der Garderobentheke noch belächelt hatte, sah sich eines Besseren belehrt und stopfte sie schleunigst in die Ohren. Als brächen Vesuv und Ätna gleichzeitig aus, und der Teufel kegelte dazu mit gigantischer Stahlkugel alle Neune nieder – so gewaltig breiteten sich Lärm und Nebel in dem kleinen Theatersaal aus. Die elektronische Klangkomposition von Ludger Brümmer wie auch Licht- und Videodesign von Wilfried Kresiment, Denny Klein und „fettFilm“ begleiten das nur reichlich einstündige Tanzstück von Susanne Linke als authentische Komponenten dieses Kunstwerks über maskuline Energie und Dynamik in der Kulisse einstiger Schwerindustrie des Ruhrpotts.

Wie eine Fata Morgana scheint für Momente eine weibliche Silhouette in den Nebelschwaden auf. Hinten fährt eine Ballettstange hoch. Vorn gleiten Haken mit Arbeitskleidern und Helmen vorüber. Greller Feuerschein züngelt um eine Metallplatte, die im nächsten Moment krachend vornüber stürzt.

Auf sechs hohen Leitern werden schemenhaft Männer sichtbar, die hinab steigen in die kräftezehrende Welt eines Stahlwerks. Vier Kilo schwere Hämmer schwingen sie, dreschen – mal unisono, mal abwechselnd wie dialogisierend, mal synkopisch – auf die zwei übereinander geschichteten Platten ein, hocken sich atemlos auf ihre Arbeitsgeräte, um zu rasten – drehen sie spielerisch, tänzelnd, schwingen sie kreiselnd wie olympische Hammerwerfer. Wenig später werden die Männer auf der Stelle rennen in ihren Stiefeln – neben einander an der Rampe, dann über die stählerne Doppelplatte wie auf einem Fließband.  Oder sie robben wie Militärs, hechten aus dem Stand auf den harten Boden und rollen sich weiter wie durch einen Schützengraben. Im Salto Mortale stürzt sich Janis Heldmann von der Leiter in den Raum. Wie der große Blonde ist auch der drahtige Lin Verleger – unglaublich seine lang gehaltenen Körperskulpturen! – ein Meister des Breakdance. Der hochgewachsene Tänzer Paul Hess mutiert zum Brett und lässt sich wie ein Stück Material aus dem Weg schaffen. Dann wieder formieren sich die acht Männer in geometrischen Mustern und spulen ihre minutiös akkuraten Bewegungen ab, als exerziere man hier ein Balanchine-Ballett. „Hand in Hand“ funktioniert der  Arbeitsablauf hier wie dort, in Industrie und Kunst.   

Immer wieder blitzt die Lust an Sport und Spiel auf, vor allem, wenn die Kumpel rasten. Zu immer fulminanteren Breakdance-Einlagen fordern sich Alexis Fernandez Ferrera und Julio Cesar Iglesias Ungo heraus. Die Schönheit maskuliner Muskelpakete auf schweißglänzenden Leibern zeigt der dunkelhäutige Ibraim Biaye, wenn er sein nassgeschwitztes Hemd auszieht, oder am Ende der Schicht die Männer splitternackt unter der Dusche der Waschkaue stehen.

Fließend sind die Übergänge zwischen Hütte und Bergwerk, zwischen Maloche und Tanz. Linkes Tanzstück ist alles andere als eine Dokumentation des sterbenden Reviers. Dennoch setzt sie mit ihrem dynamischen Männer-Tanzstück der Maloche im Ruhrpott ein bleibendes Denkmal, indem sie sich, ähnlich wie in ihrem früheren „Frauenballett“, mit der Arbeitswelt solidarisiert und gleichzeitig auf die ganz und gar unromantische, keineswegs „leicht schwebende“ Knochenarbeit im Ballettsaal aufmerksam macht.  

Die Besetzung ist eine Besonderheit dieser Rekonstruktion von Linkes legendärer Choreografie aus dem Jahr 1991. Agierten damals drei Folkwang-Tänzer und drei Pantomimen, so stehen heute neben Essener Tänzern Breakdancer des Herner Streetart-Kollektivs Renegade auf der Bühne. Durch sie gewinnt das Stück enorm an authentischer Aktualität. Zugeständnis an neue Techniken im Theater und auch an den eigentlich viel zu kleinen Bühnenraum sind Videos wie die Fahrt in den Schacht, die qualmenden Schlote, das Zusammenbrechen der Industrie.

Ermöglicht wurde diese außergewöhnliche Zusammenarbeit von jungen professionellen Tänzern und Streetart-Performern durch den Tanzfonds Erbe der Kulturstiftung des Bundes – ein besonderes Geschenk an die Herner Privatinitiative Pottporus zum 10. Geburtstag des Kollektivs Renegade, das nach dreijähriger Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus Bochum im Sommer eine feste Spielstätte in der „Zeche 1“ bekommt, wo Reinhild Hoffmann in den von 1986-95 dem Tanz in der Schauspielstadt eine Bresche schlug. Daran soll Renegade anknüpfen.