Foto: Faszinierendes Männerduett: David Nigro und Tommaso Quartani. © Bettina Stöß
Text:Vesna Mlakar, am 2. November 2019
Besser hätte der Einstand für Georg Reischl am Theater Regensburg nicht laufen können. Noch ehe der letzte Teil seines Premierentanzabends im Velodrom vorüber ist, werden gewohnte Grenzen gesprengt. Tänzer und Publikum verbünden sich in einer gemeinsamen Begeisterungswelle. Stellenweise fühlt man sich wie bei einem Popkonzert: Von Songs angestachelt wird auf beiden Seiten der Rampe lautstark mitgejohlt. Auf der Bühne ist das natürlich Teil der Inszenierung – verpackt in flippige, pastellbunte, oben lässig aufgeknöpft getragene Anzüge (Kostüme: Min Li). Das Wichtigste aber: Der energetische Funke springt tatsächlich über.
Weil sich Yuki Mori – durchaus eigen in seiner choreographischen Arbeit – Ende vergangener Spielzeit auf persönlichen Wunsch von der Kompanie, die er sieben Jahre maßgeblich geprägt hatte, verabschiedete, wurde Reischl zum neuen Spartenleiter und Chefchoreographen berufen. Ein Karrieresprung für den in Salzburg und an der Wiener Staatsoper ausgebildeten Österreicher, der 1999 zu William Forsythes Ballett Frankfurt kam. Eigene Werke für das Scapino Ballett in Rotterdam, dessen Hauschoreograph Reischl dann bis 2010 war, entstanden noch während seiner Zeit als Forsythe-Tänzer. Weitere Aufträge führten ihn später als Freischaffenden nach Wien, Kiel, Augsburg, Mainz, Hannover, Köln und München. Am Luzerner Theater amtiert er seit der Spielzeit 2016/17 als Associate-Artist für Tanz an der Seite von Kathleen McNurney.
In Regensburg stellte Georg Reischl nun seine Fertigkeit vor, es mittels Tanz in Soli, Pas de deux und Ensemblepassagen auf der Bühne nach allen Regeln der Kunst menscheln zu lassen. Findig choreographisch abstrahiert, mal angereichert mit einem Quäntchen an selbstverliebter Tragik beziehungsweise einer kollektiven Dosis an parodistischem Witz. Zudem clever austariert bis in die geflissentlich verzögerten oder zeitlupenhaft verlangsamten Auf- und Abtritte sowie in die abwechslungsreichen, nie vorhersehbaren Übergänge.
Dass Reischl sein Handwerk beherrscht, zeigt sich schon in der variantenreichen Bespielung des Raums. Nichts Dekoratives lenkt vom Tanz ab. Nur zu Beginn verdeckt ein in einen gerippten Portalrahmen eingespannter schwarzer Vorhang die Bühnentiefe (Bühne: Bianca Leonie Bauer und Georg Reischl). Die beiden seitlichen Türzugänge davor zwingen gleich das erste Tänzerpaar, sich gegenseitig – ganz nah an den vorderen Parkettreihen – in einem tänzerischen Ringkampf aus Überlegenheitsdemonstration und erotischer Anziehungskraft zu erobern.
Dazu erklingt „Se in ogni guardo“ aus Antonio Vivaldis Opera seria „Orlando finto pazzo“ („Orlando spielt verrückt“). In die musikalischen Höhepunkte steigern sich Frau und Mann derart hinein, dass ihnen am Ende die erfolgte Befriedigung in Form einer breit grinsenden Grimasse im Gesicht kleben bleibt. So lange, bis sie sich – entlang eines von hinten nachrückenden Paares – in den nun offenen Hintergrund gearbeitet haben. Unterbrochen von Gruppensequenzen, exaltierten Lachausrastern und begleitet von diversen Vivaldi-Arien vom Band, die ausnahmslos Countertenor Philippe Jaroussky interpretiert, werden klassische Rollenmodelle aufs Korn genommen – inhaltlich unaufdringlich, mehrdeutig und stets impulsiv.
Sowohl Simone Elliott (Ensemblemitglied seit 2014) als auch der junge polnische Senkrechtstarter Bartłomiej Kowalczyk (Absolvent der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, jetzt erster Eleve der Regensburger Truppe) scheuen nicht davor zurück, beim Ausleben innerer Befindlichkeiten und kleiner Siege über den Partner das Publikumsgegenüber im abgedunkelten Saal direkt einzubinden. Eine zuweilen absichtshaft ins Manieristische kippende Masche, die alle neun Mitwirkenden förmlich zusammenschweißt. Sie kommunizieren verschwörerisch über ein eingängiges Gestenvokabular mit dem Publikum und singen, in einer Frontreihe stehend, einige Liedpassagen laut mit, die dem Abend musikalisch seine Dynamik verleihen. Schließlich hat Reischl sein launiges Antrittsstück „Juke Box Heroes“, völlig losgelöst von inhaltlich-intellektueller Schwere, in erster Linie der menschlichen Stimme gewidmet. Mit einer Musikauswahl, die das Geschlecht der Singenden stets vergessen machen soll.
Auf diese Weise lässt Reischl, der bis auf drei Neuzugänge die gesamte Kompanie von Mori übernommen hat, den in seine Verantwortung übergegangenen Faden zeitgenössischer Bewegungslust einfach munter weiterlaufen. Alt oder neu – die Tänzerinnen und Tänzer präsentieren sich mit herrlicher Ausdruckskraft und gestisch ganz auf die Marotten eingeschworen, die Reischl ihren Persönlichkeiten als „Musikautomatenhelden“ verpasst hat. Dass es sicher noch etwas dauern wird, Reischls stilistische Eigenarten, prompte Hebefiguren und Richtungswendungen gänzlich zu verinnerlichen, versteht sich von selbst. In Anbetracht des gelungenen Neustarts darf man jedenfalls zuversichtlich sein.
Der Brückenschlag aus der farblichen Monotonie des ersten Teils in den farbigen zweiten gelingt mittels eines bewegend-amüsanten Männerduetts. Nach der stark mimischen Übersetzung einer Arie in hauptsächlich Mund- und Armbewegungen am Platz darf sich Tommaso Quartano tänzerisch auf Kumpel-Niveau mit David Nigro (neu im Regensburger Team) messen. Dazu krächzt Tom Waits mit rauchiger Stimme Leonard Bernsteins „Somewhere“ aus „West Side Story“. Anschließend rücken Pop- und Rocksongs von Bonnie Tyler, Kate Bush, Nina Simone, Melissa Etheridge oder Billie Eilish das Individuum innerhalb einer Gemeinschaft in den Fokus.
Auch Nigro bekommt nach der Pause ein Solo und explodiert schier dabei. Symbolhaft reckt er seinen Zeige- und kleinen Finger in die Höhe, heizt die Stimmung weiter an. Später tanzt er, elektrifiziert von den Beats, sogar bäuchlings am Boden liegend weiter. Es sieht cool aus, wie silberner Konfettiregen zum Schluss einen letzten Tänzer zu Boden gehen lässt. Easy-going fühlt sich hier freilich schaurig-schön an. Reischls „Juke Box Heroes“ ist voll von solchen auch gefälligen Botschaften. Doch sie kommen an und reißen mit. Da Reischl laut eigener Aussage will, „dass der Tanz die Menschen in Regensburg weiter erfolgreich zusammenbringt“, ist er definitiv auf dem richtigen Weg.