Wie in vier Kapiteln eines Buches oder Sätzen einer Symphonie reflektiert "De Materie" die Zusammenhänge von Materie, Geist und Gesellschaft aus wechselnden Perspektiven.

Durch die Tiefe des Raumes

Louis Andriessen: De Materie

Theater:Kraftzentrale, Ruhrtriennale, Premiere:15.08.2014Regie:Heiner GoebbelsMusikalische Leitung:Peter Rundel

Nun also Duisburg. Erstmals seit vielen Jahren fand die Eröffnung der Ruhrtriennale nicht in der Bochumer Jahrhunderthalle statt, sondern in der Kraftzentrale im Duisburger Landschaftspark Nord. Die Raumdimensionen sind ähnlich, aber die Kraftzentrale ist keine Industriekathedrale. Sie wirkt sachlicher, eher wie eine gut gesäuberte Riesenscheune. Heiner Goebbels präsentiert den Raum pur und erfindet gleichsam Partner für ihn, raffinierte Objekte wie ferngesteuerte Luftschiffe oder Farben wechselnde, grotesk ausschwingende Pendel, aber auch eine veritable Herde lebender Schafe.

Und die Musik von Louis Andriessens „De Materie“, 1989 uraufgeführt und dann nie wieder gespielt. Der bläserdominierte, vielfältige Klang entsteht, straight postmodern, aus überschriebenen Quellen, deren Zitatcharakter eher unterschwellig wirkt, wird oft in einzelne Schläge geteilt oder zu Tanzrhythmen geformt, zum mitreißenden Boogie-Woogie, zur melancholisch ausgreifenden Pavane. Inhaltlich ist „De Materie“ Diskurstheater, will Geist und Materie in vier nicht aufeinander bezogenen Teilen zusammen denken. Andriessen bezweifelt implizit, dass das Sein tatsächlich das Bewusstsein bestimmen könne und zieht dafür zum Zeugen in erster Linie die niederländische Real- und Kulturgeschichte heran.

Goebbels lässt die vielen, oft gleichzeitig gesungenen Texte übersetzt kreuz und quer durch die scheinbar endlos tiefe Halle projizieren und verleiht ihr so Kontur. Sein Theater will nicht erzählen oder gar überwältigen, sondern Räume öffnen, in denen jeder Zuschauer individuelle Erfahrungen machen, die jeder anders wahrnehmen kann. In „De Materie“ aber kommt vieles zauberisch-elegant daher, manches darüber hinaus fast komödienhaft präzise getimt. Und überwältigt eben. Wenn das erste Luftschiff über weißen Zelten aufgeht wie ein Mittelding aus Mond und schwerelosem Insekt. Wenn zwei Boogie-Tänzer von ganz hinten auftreten, gefühlt fingergroß, und sich ganz zwanglos unter den irrlichternden Pendeln wiegen. Wenn das Luftschiff die Schafherde beisammen hält wie ein Hütehund. Da prallen dann zwei Monstersymbole aufeinander. Wildes und doch domestiziertes Leben trifft auf die Ausgeburt des kreativen, produktiven Menschenhirns. Das ist fast zu konkret, zu fassbar für Goebbels‘ Idee einer „Ästhetik der Abwesenheit“. Hier entsteht vielmehr, auch das eine Kunstform, sicherlich, Opulenz durch Reduktion.

Natürlich ist „de Materie“ dennoch – oder deshalb? – außergewöhnliches Theater. Weil die unbekannte Musik tatsächlich Räume in der Vorstellung des Zuschauers öffnet, und ebenso tatsächlich zum Teil des konkreten Bühnenraumes wird. Weil wirklich Momente der Leere entstehen, die dem Zuschauer eine Haltung abverlangen, und andererseits doch jeder irgendwie sein privates Wunder erlebt. Weil der Umgang mit dem Thema etwas verspielt, aber nie beliebig wirkt. Und natürlich, weil alles unglaublich gut ausgeführt wird, vom Ensemble Modern und den wundervollen Solisten.

Am Ende bauen Goebbels und sein kongenialer Bühnen- und Lichtdesigner Klaus Grünberg ein sehr konkretes, „realistisches“ Bild. Sie stellen ein Foto der Solvay-Konferenz von 1911 nach. Marie Curie zwischen schlecht verkraftetem Tod ihres Mannes und Verleihung des Nobelpreises, umgeben von 25 würdigen Männern, Wissenschaftler in Bratenröcken mit Gründerzeit-Bärten. Das Bild entsteht fließend, präzise und unaufgeregt. Es wirkt – erlesen. In diesem Adjektiv findet sich die Einzigartigkeit von Heiner Goebbels‘ Theater und vielleicht auch dessen Grenzen.