Szene aus "Der Ring des Nibelungen"

Die vergessenen Geschichten

Necati Öziri: Der Ring des Nibelungen

Theater:Schauspielhaus Zürich, Premiere:28.01.2022 (UA)Regie:Christopher Rüping

Nach drei Stunden und vierzig Minuten wird klar, was sie im Bühnenhintergrund die ganze Zeit gewerkelt haben, vor einer Maschine mit einem großen Trichter. Nein, um den Goldschatz der Nibelungen, der das Unheil in die Welt gebracht hat, geht es nicht. No Capitalism, please. Ganz im im Gegenteil: Das Ensemble hat lauter kleine Kerzen gegossen. Lichter in Wotans Finsternis. Das Publikum darf sie abholen, nachdem ein Steg umständlich Bühne und Zuschauerraum im Zürcher Schauspielhaus Pfauen miteinander verbunden hat. Und natürlich will jeder diese freundliche Gabe aus der Hand des Ensembles in Empfang nehmen. Die Schlangen rechts und links der Stuhlreihen werden lang und länger. Vier Stunden sollen die Kerzen brennen, sagt der Schauspieler Nils Kahnwald. Vier Stunden, in denen man einem Menschen zuhören kann, der einem seine Geschichte erzählt.

Kein schlechter Plan. Vorher haben sechs Figuren in Necati Öziris erklärter „Korrektur“ von Wagners Oper „Der Ring des Nibelungen“ ihre Geschichten erzählt – in sechs ziemlich langen Monologen, begleitet am Setpult von Black Cracker, der die Sounds eines achtköpfigen Orchesters immer wieder neu zusammenmischt. Kein Wort von Wagner: Das war die Bedingung des in den 1990ern als Sohn türkischer Migranten im Ruhrgebiet aufgewachsenen Autors für die Beschäftigung mit dem aus seiner Sicht schwer kontaminierten Stoff gewesen. Und keine Note des Komponisten. Einmal nur verröchelt das Leitmotiv des Walkürenritts. Gesungen wird auch, aber nur sehr kurz und parodistisch. Öziri ist angetreten, die deutsche Literatur von ihren toxischen Imprägnierung zu befreien. Sein erster Reinigungsakt betraf Heinrich von Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“, 2019 ebenfalls in Zürich inszeniert (damals von Sebastian Nübling). Nun also der Fall Wagner. Man erinnert sich kurz daran, dass Christoph Schlingensief der Meinung war, sein Engagement in Bayreuth hätte seinen Körper mit Krebszellen vergiftet.

Nebenfiguren dürfen sprechen

Öziris Entgiftung rückt Figuren in den Fokus, die bei Wagner eher in der zweiten Reihe stehen. Die Erdgöttin und Urmutter Erda etwa, die in Gestalt von Yodit Tarikwa den Bewohnern von Walhall – das sind wir – die Leviten liest. Wir haben es verbockt. Und sind reif für den Untergang. Klar, dass dem hässlichen Zwerg Alberich die Sympathie des Autors gehört. Nils Kahnwald macht sich in direkter Ansprache an das Publikum – eine Spezialität von Rüping – Gedanken über Attraktivität und ihre Kehrseite. Zum Gnom wird man gemacht. Alberich ist das Opfer gesellschaftlich heteronormativer Zuschreibungen. Wie Brünnhilde zu retten ist vor Siegfried und ihrem Vater Wotan: Das ist kein einfaches Geschäft. Und so ganz klar wird das auch nicht in Wiebke Mollenhauers Performance, die sich ohne klares Konzept von der fünf- bis zur 28-jährigen Walküre vorarbeitet. Man merkt an dieser Stelle besonders, dass sich Öziri in einem fremden Terrain bewegt.

Das wird nach der Pause anders. Am überzeugendsten gelingt der chorische Aufritt der Söhne von Wagners Riesen Fafner und Fasolt. Benjamin Lillie und Steven Sowah vergegenwärtigen eindringlich die schmerzhafte Geschichte der europäischen Arbeitsmigration: Die Dringlichkeit ihres Sprechens erwächst, so hat es den Anschein, aus authentischer Erfahrung. Auch die großartige Maja Beckmann nimmt als alternde Göttergattin Fricka für sich ein. Sie hat alle Eifersucht überwunden und geht einem selbstbestimmten Leben in Gelassenheit entgegen. Leider muss auch Beckmann eins der hässlichen Kostüme (Lene Schwind) zwischen Trainingsanzug und Karneval tragen. Und dann schießt der wütende Wotan dazwischen: Der fabelhafte Matthias Neukirch liefert einen furiosen Abgesang auf die Welt des alten weißen Mannes ab.

Christopher Rüping kann sich wie immer auf sein grandioses Ensemble verlassen, viel zu inszenieren gibt es nicht an diesen Bühnenessays, die das Theater als neue Tugendanstalt etablieren wollen. Die rührende Geschichte vom Waldvöglein und dem Drachen zeigt uns den Weg in einer friedliche Zukunft der Koexistenz. Es ist ein bisschen anstrengend, so viel guter Wille.