Foto: Marcos Vinicius Da Silva und Ensemble in "Faust" an der Oper Leipzig © Ida Zenna
Text:Roland H. Dippel, am 6. Februar 2022
Edward Clug hätte in der Modifikation seiner 2018 an der Oper Zürich begeistert aufgenommenen „Faust“-Tanzversion gerne unbequemere Fragen über Himmel, Hölle und die Welt dazwischen stellen dürfen. Lebhafter Jubel für das über 40-köpfige Leipziger Ballett und das Gewandhausorchester brandeten nach zwei Teilen in genau 90 Minuten auf. Dieser ließ beim Erscheinen des Leitungsteams etwas nach, reichte aber noch immer zum vollgültigen Intendanz-Glück.
Clug bebilderte Fausts getragene Gedankenflüge und Mephistos zackige Geistesblitze in Goethes „Faust I“ mit vielen synchronen Bewegungen und langen Pantomimen. Die 500 glücklichen Besucherinnen und Besucher freuten sich an diesem kleinen Faust-Universum auf der großen Bühne des Opernhauses, das sich in nur 300 Meter Entfernung von Auerbachs Keller befindet. Dieser Schauplatz von Goethes Tragödie spielt gern ein eigenes Faust-Musical für schmausende Gäste.
Zwei ganz starke Stellen hat die Choreografie Edward Clugs, der auch in der Buch- und Musikstadt sein eigener Dramaturg sein wollte: Bei Clug ist der Universalgelehrte Faust wie bei Goethe und in früheren Adaptionen bis zurück zum Volksbuch von 1587 auch Mediziner. Nach dem durch höhere Wesen vereitelten Selbstmord obduziert Faust einen toten Mann auf einer Bahre, der landläufigen Heiland-Bildern total ähnlich sieht (David Iglesias Gonzalez). Doch durch physisch-anatomischen Wissenszuwachs kommt man dem Geheimnis der Seele und dem Makrokosmos keineswegs näher.
Ähnliches verrichten später die Helfershelfer einer gewissen Sybil (Diana Sandu als Tanz-Äquivalent für Goethes Hexe) an Faust bei dessen Verjüngung. Gerade noch saß Faust im Rollstuhl, in dem er Bücherberge von Ort zu Ort schieben musste. Mephisto (der sowohl Clug als auch seinem Komponisten Milko Lazar am meisten interessierte) trägt rote Schuhe und hat fast so viel Schalkhaftigkeit wie Goethes „Geist, der stets verneint“. Wunderbar der Moment, wenn Marcos Vinicius Da Silva seine Beine an der Decke eines engen Raumquaders hat und seine Schultern auf denen des weltverdrossenen Faust lasten.
Viele weitere Bilder sind vergleichbar schön, haben aber weniger Ausdruck. Gretchen (Samantha Vottari) landet keinen Horror-Joker, wenn sie ihren Säugling im Kinderwagen unter Wasser setzt und so ersäuft. Nach der Walpurgisnacht, in der Tanzende mit Tiermasken an Faust ein erotisches Initiationsritual vollziehen, wirkt das in korrekter Goethe-Reihenfolge daran geklebte Kerker-Finale mit Gretchens Tod entbehrlich.
Klare Erzählung
Clug setzt auf narrative Überschaubarkeit, übernimmt die Mehrzahl der Massenszenen aus der Tragödie. Während andere „Faust“-Choreografien seit mehr als 200 Jahren andere Handlungsmixturen versuchen, bleibt Clug straff bei Goethe. Er will die Tanzenden wie Schauspieler:innen behandeln. Aber die Leipziger Compagnie, mit dieser Spielform seit einigen Jahren wenig geübt, setzen Clugs spielerischen Input zu sanft um. Die inneren Zerreißproben des Doktor Faust, seinen Lebensüberdruss, seine erotische Gier und spontane Reue bleiben Andeutungen. Carl van Godtsenhoven feiert die Titelgestalt mit somnambulen Blicken und Bewegungen fast wie eine Legende. Nur reichen beim Tanz Zeitlupe und Puder im Haar nicht, um alt zu wirken.
Die Compagnie hüpft und springt viel mit beiden Beinen – teils geschlossen, teils gespreizt, oft synchron und meist in Uniformen: Osterspazierende mit Imitaten von Hirschlederhosenträgern, Fausts emsige Schulklasse mit kurzen Hosen, mit den Flügeln klappernde Teufel und Engel sowie die Gretchen-Doubles mit Wassereimern. Gretchens Berserker-Bruder Valentin (Marcelino Libao) bringt eine exotische Farbe ins Geschehen: Er stirbt den Tod eines Samurais auf goldfarbenem Erntefeld. Clug hat Marko Japelj für die praktikabel schwarze Bühne mit Panoramafläche im Hintergrund und Leo Kulaš für die vielen meisterhaft schlichten Kostüme mitgebracht. Beide sind echte Könner. Viele Szenen wirken komödiantisch leicht, etwa wenn Mephisto aus einem Luftballon den Pudel ‚zaubert‘. Da wurde im Saal auch geschmunzelt. Es hätte mehr solcher filigranen und pointensicheren Momente geben dürfen.
Das Potenzial der Musik
Clug kreierte generell große Bewegungen zu lauten und filigrane zu leisen Stellen. Forte und Piano sind für ihn wie Pfeffer und Salz. Das ist schade, denn Milko Lazar arbeitet in seiner Auftragskomposition für die Züricher „Faust“-Uraufführung mit musikalischen Mitteln, die von der Szene kommentiert und gebrochen werden wollen. Lazars Klangfarbe fürs Böse kommt vom Cembalo, nur selten von tiefen Streichern und Bläsern.
Dirigent Matthias Foremny lässt das hier kaum wiederzuerkennende Gewandhausorchester einfach machen. Lazar nutzt Instrumente nicht mit ihrem ‚klassischen‘ Eigenklang, sondern für Imitationen von Elektrowellen. Verfremdungen, perkussive Elemente – Spannungseffekte ereignen sich in Grenzgebieten vom Elektrosound zum Geräusch und wirken dramatisch pointierter als das Geschehen auf der Bühne. Lazars Höhepunkte eifern Philip Glass nach. Die metaphysisch-religiöse Komponente nimmt man Clug und Lazar schwerlich ab. Die rhythmisch-dynamischen Angebote Lazars nutzte Clug intensiver als deren durchaus vorhandenen und manchmal sogar rumorenden Frenetismus.
Es gibt an diesem Abend zwar in allen Szenen sehr gute Tänzerinnen und Tänzer, aber keine sich ins Gedächtnis meißelnden Persönlichkeiten. Offenbar ist Clugs Kuppelmutter Marta auch gleich Gretchens leibliche Mutter (Ester Ferrini). So wie Madoka Ishikawa als Engel ihre angezausten Flügel sinken lässt, kann es mit der himmlischen Erlösung in diesem „Faust“-Kosmos nicht allzu weit her sein. Goethes in Aufführungen des Dramas geflüstertes, geschrienes oder geklagtes Schlusswort „Gerettet!“ muss man sich dazu denken nach einem Abend, dem mehr Eigeninitiative gegen Goethes Übermacht gutgetan hätte.