Szene mit Nils Kahnwald (l.) und Kristof van Boven im Vordergrund.

Krieg in Episoden

Ágota Kristóf: Das große Heft

Theater:Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere:15.11.2025Regie:Karin Henkel

Karin Henkel kombiniert in ihrer Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“ mit live vorgetragenen Erzählungen von Überlebenden des Hamburger Feuersturms. So macht sie den Krieg zu einer Realität.

Es herrscht Krieg. Die Zwillinge werden von ihrer Mutter aus einer Stadt, in der Krieg tobt, zur Großmutter gebracht, um sie zu schützen. Die Großmutter nennt ihre Enkel „Hurensöhne“ und lässt sie arbeiten. Der Krieg kommt auch zu ihnen. Ágota Kristóf (1935–2011) hat ihren Roman „Das große Heft“ in den 1980er-Jahren geschrieben. Sie erlebte als Kind den Zweiten Weltkrieg, der Ungarnaufstand von 1956 machte sie und ihre Familie zu Flüchtlingen. Ihre Flucht endete in der Westschweiz; sie lernte die neue Sprache und schrieb in ihr ihre Bücher.

Autorin auf der Bühne

Die Autorin Ágota Kristóf ist in Karin Henkels Inszenierung selbst auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses präsent. Julia Wieninger spielt sie, spricht von „29 Szenen“, die sie noch in die richtige Reihenfolge bringen müsse, mischt sich immer wieder ein wie eine Regisseurin, löst Szenen mit Befehlen aus, spricht verstärkt und spielt teilweise auch Nebenfiguren. Sie macht „Das große Heft“ zu einem Work in Progress: Der ästhetische Weg ist noch nicht gefunden, nur die Botschaft.

Für die sind die Zwillinge zuständig. Nils Kahnwald und Kristof Van Boven geben sie, beide schlank und blond. Van Boven trägt eine Brille, vielleicht zur Unterscheidung. Es ist faszinierend ihnen zuzusehen, wie sie alle Szenen und Figuren bewältigen – nur mit Sprache und sparsamer Gestik, teilweise wie Kinder, die etwas nachspielen, dann wieder ernsthaft sich über die Dinge erhebend. Während Kahnwald immer ruhiger und in der Stimme auch männlicher wirkt, bleibt Van Boven oft ein Kind: ängstlich, manchmal verwirrt.

Über allem schwebt ein großer Ring

So nehmen sie die große, leere Bühne des Schauspielhauses fast allein ein. Ein paar Notenständer mit Textblättern hat Karin Brack hingestellt, ein paar unauffällige Möbel – ein Tisch, ein Podest, eine Kiste. Und über allem schwebt ein großer Ring, ausgestattet mit Ventilatoren, Lautsprechern und Scheinwerfern. Vielleicht eine riesige Drohne? Eine fliegende Untertasse? Irgendein futuristisches Kriegsgerät? Auf jeden Fall verleiht er dem Raum Kontur und eine Aura des Besonderen. Unterstützt wird dies durch die Kostüme von Nina von Mechow, das Sounddesign von Arvild J. Baud und das Licht von Holger Stellwag. Alle drei arbeiten reduziert, aber nicht richtungslos und stützen den Raumentwurf.

Am Anfang stehen zwei Szenen, die viel erklären. Die Mutter stirbt im Bombenhagel und die Zwillinge legen das große Heft an, in das sie „Wahrheiten“ schreiben, objektiv beschreiben, so ihre Welt neu kennenlernen und sich von ihr absetzen.

Der Rest bleibt Episode, wird nicht zur Handlung. Am Anfang tauchen zwei Kinder auf, die die Zwillinge verdoppeln. Eine Tänzerin spielt die Mutter und die behinderte Nachbarin Hasenscharte. Immer ist Gewalt eine Lösung, immer sind die Menschen sehr ichbezogen. Und immer wieder – das ist eine große Qualität der Inszenierung – haben die Zwillinge nur sich selbst. Diese Wärme im Spiel, trotz Mord und Diebstahl in der Handlung, macht sprachlos.

Feuersturm in Hamburg

Vor der Pause des knapp zweieinhalbstündigen Abends steigt Nils Kahnwald plötzlich aus seiner Rolle aus und erzählt von der Vergangenheit des Theaters, in dem bereits vor 1935 alle jüdischen Angestellten entlassen wurden. Im Krieg wurde der Bühnenraum zur Rüstungsfabrik, der Zuschauerraum zum Lichtspielhaus. Dann treten sieben alte Menschen auf – Überlebende des Hamburger Feuersturms – und erzählen vom Juli 1943. Die Bestie Krieg, vor der sich die Zwillinge abschotten wollen, bekommt hier ein Gesicht. Die Erzählung der 90-jährigen jüdischen Frau, die nicht in die Bunker hineinkam, weil sie Jüdin war, sogar in Kirchen abgewiesen wurde und dann mit ihrer Mutter auf der Suche nach Schutz durch Flammen und Leichen eilte – sie vergisst man nicht.

Nach der Pause geht die episodische Erzählung weiter. Der Krieg überzieht das Land, die Zwillinge töten die Großmutter und Hasenschartes Mutter – beides auf Verlangen – und töten ihren Vater, weil sie ein Opfer brauchen, um das Minenfeld zu durchqueren, einen Vorgänger, der die Minen auslöst, damit einer der Zwillinge ihm nachfolgen kann.

Hier hat der mitreißende Abend eine Schwäche. Warum trennen sich beide? Kristóf hat in ihrem Roman gezeigt, wie die Zwillinge Schmerz, Empathie, Moral und zuletzt soziale Bindung bekämpfen und aus ihrem Leben verbannen, um sich gegen den Krieg zu verteidigen. Das erklärt Karin Henkels Inszenierung durch ihre episodische Struktur nicht. Doch das ist nur ein kleiner Makel. Dagegen stehen die große und in Bahnen gehaltene Spielfreude von Nils Kahnwald und Kristof Van Boven, die Sichtbarmachung des Kriegstraumas der Überlebenden (und, auf eine Weise, der Stadt Hamburg) und dadurch eine realistische Lesart des Phänomens Krieg. „Man wirft mir vor, traurige Bücher zu schreiben. Aber es gibt Leben, die sind noch viel trauriger“, sagt Julia Wieninger als Ágota Kristóf am Schluss. Mögen wir hier keinen Krieg mehr bekommen!

Kristof Van Boven (l.) und Nils Kahnwald als Zwillinge (mit der Tänzerin Sabine Molenaar). Foto: Lalo Jodlbauer)