Foto: Rosalies schwebende Lichtstelen machen Mahlers Symphonie Nr. 8 in Es-Dur zur Klanginstallation. © Wolf-Dieter Gericke
Text:Detlef Brandenburg, am 29. April 2017
Der Raum inszeniert die Musik: Mahlers Symphonie Nr. 8 Es-Dur mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und einer Lichtskulptur von rosalie in Elbphilharmonie.
Hört man in der Elbphilharmonie die Musik anders? Über die Akustik des schönen neuen Hauses ist ja viel diskutiert worden: Sie sei gut, verzeihe aber keinen Fehler. Sie eigne sich schlecht für romantisches Repertoire, umso besser aber für komplexe neuere Klänge. Dort seien die Bläser zu laut, hier die Sänger zu leise… Dahinter stecken zwei ein altbekannte Probleme: Keine Akustik ist gut für alle Musik. Und es gibt kaum einen Konzertsaal, in dem man auf allen Plätzen dasselbe Klangerlebnis hat. Bei so einer Architektur-Ikone ist aber eine andere Frage mindestens ebenso interessant: Die Menschen strömen hier hin. Leute, die sich kaum je für „klassische“ Musik interessiert haben, wollen sie plötzlich in diesem Gebäude unbedingt hören. Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter witzelte anlässlich der Eröffnung des Kleinen Saals: „Wir würden den Großen Saal momentan auch mit dem Kammblasen unserer Putzfrauen füllen“. In der Tat: Die Elbphilharmonie, vulgo Elphi, ist ein Popstar. Und das ist so, weil sie ein extrem faszinierendes, die Menschen begeisterndes Kunstwerk sui generis ist. Der exponierte Standort, die Synthese aus Hafenspeicher und Halle der hehren Musik, die spektakuläre Form, das kryptisch verschachtelte Innere, schließlich der große Saal mit seinen gewaltigen Dimensionen – all das entfaltet eine ungeheure Aura. Und diese Aura tritt unweigerlich in Interferenz mit der Musik, die hier gespielt wird. Diese Architektur inszeniert die Musik. Und damit verwandelt sie das Hören.
Besonders wirksam wird diese Aura dann, wenn auch die Musik selbst extrem auratisch ist. So wie Mahlers gewaltige Symphonie Nr. 8 in Es-Dur mit Sopran-, Alt-, Tenor-, Bariton- und Basssolisten, zwei großen gemischten Chören und Knabenchor. Diese gewaltige Besetzung, zudem mit einem Riesenorchester, hat ihr den Beinamen „Symphonie der Tausend“ eingetragen – der Mahler übrigens in etwa so gut gefiel wie vermutlich die kammblasenden Putzfrauen, weil sich damit ein Eventcharakter artikulierte, den er verabscheute. Mahler steigert hier den schon in der Sonatenhauptsatz-Form der klassisch-romantischen Sinfonie angelegten Versöhnungsgedanken ins Hypertrophe, was sich, wie schon in Beethovens 9. Sinfonie, unter anderem darin ausdrückt, dass zum sinfonischen Geschehen das gesungene Wort des Chores und der Vokalsolisten hinzutritt. Im ersten Teil, in dem man durchaus noch die Grundzüge der Sonatenhauptsatzform wiederfinden kann, ist das der mittelalterliche Pfingst-Hymnus „Veni, creator Spiritus“; im zweiten, eine Art sinfonische Szene, sind es die Schlussverse aus Goethes „Faust“. Diese Konstellation ist programmatisch: Die im Hymnus ausgedrückte Bitte an den Heiligen Geist um Gotteserkenntnis und Gottesliebe wird durch Goethes Erlösungsfeier für Faust gleichsam eingelöst. Mahler zielt hier auf nichts Geringeres als eine ästhetische Erlösung durch das Kunstwerk.
In so einem Fall wird die Architektur tatsächlich zum Bühnenbild für die Musik – konkreter: Die Elbphilharmonie mit ihren spektakulären Perspektiven auf das Orchester und die Sänger wird vollends zu einer Art weltlichem Sakralraum, der die enorm vielschichtige Musik nicht nur spektakulär zur Geltung bringt, sondern das Publikum in fast Gottesdienst-ähnlicher Weise für diese Musik vereinnahmt. Insofern war die Idee der Hamburgischen Staatsoper an sich nicht schlecht, beim 9. Philharmonischen Konzert des Staatsorchesters unter dem Titel „Mahler 8“ diese Aura durch eine Lichtskulptur der bildenden Künstlerin rosalie noch zu unterstreichen: Sieben gewaltige rechteckige Stelen hängen im Viertelkreis hinter dem Orchester, überdimensionalen Stalaktiten gleich. Diesen Stelen leuchten in farbigem Licht, konturiert wie die Leuchtfäden gigantischer Heizstrahler, das sich mit der Musik verändert, allerdings ohne wirklich auf ihre komplexe Struktur einzugehen. Die Stelen führten eher ein geschmackvoll illuminiertes Eigenleben, das aber dekoratives Beiwerk blieb und sich gegen die Aura von Musik und Architektur nicht im Mindesten zu behaupten vermochte.
Trotz all dieser Zurüstungen zur Erlösung allerdings stand das begeistert bejubelte Konzert unter keinem guten Stern. Wenige Tage zuvor war Kent Nagano, der GMD der Staatsoper, erkrankt und musste seine Mitwirkung absagen. Als Einspringer konnte mit dem 81-jährigen israelischen Dirigenten Eliahu Inbal zwar ein bedeutender Mahlerinterpret unserer Tage gewonnen werden. Aber selbst für einen Vielerfahrenen wie ihn ist es eine heikle Herausforderung, mit nur ganz wenigen Proben die fremde Einstudierung eines derart komplexen Werkes zu übernehmen. Zumal die interpretatorischen Ansätze der beiden Dirigenten vermutlich nicht eben nahe beieinander liegen dürften. Kent Nagano ist ein Künstler der genau ausbalancierten, filigran ausformulierten Vielschichtigkeit, Inbal dagegen hält es eher mit der markant, manchmal fast kantig herausgearbeiteten Kontur. Dass er den Beginn des ersten Satzes ziemlich geradlinig und eher auf Koordination denn auf Interpretation bedacht durchdirigierte, mag dieser weiß Gott schwierigen Situation geschuldet sein. Und noch der zarte Beginn des zweiten Satzes wirkte intonatorisch und rhythmisch leicht unkoordiniert – was man in diesem Saal wirklich gnadenlos genau hört. Die große lyrisch-hymnische Steigerungsform des Schlusses aber brachte Inbal mit wunderbar selbstverständlich sich aufbauender Spannung und großer Intensität zur Geltung, das ging wirklich unter die Haut und ans Herz.
Auffällig war, dass Nagano die Solopartien mit Sängern besetzt hatte, die über keine großen, dafür aber über ganz klar konturierte und flexible Stimmen verfügen. Das lässt die (freilich spekulative) Vermutung zu, dass er sie eben nicht eigentlich als „Solisten“ führen, sondern sie quasi „instrumental“ ins Orchester einbetten wollte. Was, da Mahler hier Vokal- und Orchesterstimmen figurativ eng verzahnt, durchaus Sinn macht. Nur setzt das eben jene oben erwähnte sehr genau gearbeitete dynamische Balance voraus. Sarah Wegener (Sopran, Magna peccatrix), Jacquelyn Wagner (Sopran, Una poenitentium), Heather Engebretson (Sopran, Mater gloriosa), Daniela Sindram (Alt, Mulier samaritana), Dorottya Láng (Alt, Maria aegyptiaca), Burkhard Fritz (Tenor, Doctor marianus), Kartal Karagedik (Bariton, Pater ecstaticus), und Wilhelm Schwinghammer (Bass, Pater profundus – letzteres sind jeweils die Figuren der „Faust“-Szene) machten ihre Sache überwiegend klangschön und konturenklar. Sie wurden aber (zumindest, wenn man sie von einem Platz der 15. Ebene aus hörte) immer mal wieder vom Orchester überdeckt. Großartig waren alle drei beteiligten Chöre: der Chor der Staatsoper Hamburg (Einstudierung Eberhard Friedrich); der (lettische) Staatschor Latvija (Einstudierung Maris Sirmais); und die Hamburger Alsterspatzen (Einstudierung Jürgen Luhn). Der erste Chor-Einsatz des „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ war ein echter Gänsehaut-Moment.
Und wie ist nun die vieldiskutierte Akustik? Schwer zu sagen. In den oberen Rängen, direkt dem Orchester gegenüber, aber auch hoch über den Musikern und damit in weiter Entfernung von der Schallquelle, kommt der Klang zugleich vielschichtig, aber auch mit hörbarer räumlicher Aura an – etwas weniger getragen formuliert: Es klingt alles subtil verschwiemelt. Merkwürdigerweise teilen sich kleinste Ungenauigkeiten dennoch empfindlich mit, und die Streicher haben es gegen die Bläser sehr schwer. Die Vokalstimmen werden durch eine zarte Gloriole veredelt, die eine Beurteilung von Details aber kaum möglich macht. Auch solche Zweifel gehören eben mit zum Erlebnis des Gesamtkunstwerks Elbphilharmonie.
Weitere Termine: 30. April; 1. Mai