Foto: Ballett-Ensemble des Theaters Münster in "Passion" © Oliver Berg
Text:Ralf Döring, am 26. Februar 2022
Diesen einen Gag erlaubt sich Hans Henning Paar: Zum „Ruht wohl“-Chor kurz vor dem Ende der Johannes-Passion von Bach arrangiert er das Münsteraner Tanzensemble hinter einer schwarzen Tafel und zitiert „Das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci. Jesus freilich fehlt: Der ist zu diesem Zeitpunkt ja längst gekreuzigt, gestorben und begraben. Stattdessen stand er vor seinem Martyrium für einen Moment allein am Tisch – und zwar in der Person des fulminanten Sängerdarstellers Gregor Dalal.
Es ist diesem Tanzabend unter dem schlichten Titel „Passion“ ergangen, wie vielen Bühnenproduktionen der letzten zwei Jahre: Sie wurde corona-bedingt geschoben und geschoben, zuletzt vom 15. Januar auf den 25. Februar. Wunder oder Vorhersehung? Jedenfalls kann man sich derzeit kaum etwas Passenderes vorstellen als eine Passion von Johann Sebastian Bach.
Eigentlich war Paars Dienstzeit am Theater Münster mit dem Ende der letzten Spielzeit vorbei, ebenso wie die des Generalintendanten Ulrich Peters. Der aber war zur Premiere noch einmal nach Münster gekommen, um seinen Tanzchef gebührend zu verabschieden. Eine rührende Geste!
Starke Ergänzung für vollendete Musik
Die „Abendmahl“-Szene nimmt in dem zweieinhalbstündigen Abend nur ein paar Sekunden ein. Sekunden, die mehr sind als eine wohlfeile Pointe: Vielmehr zaubert dieses Bild ein Lächeln ins Gesicht. Dieses Lächeln ergibt sich aus der Musik von Johann Sebastian Bach, die ja von der Hoffnung spricht, die aus der Passion erwächst. Und so, wie dieser Moment die Chronologie der Erzählung aufbricht, so illustriert der Tanz nicht bloß Bachs Musik, sondern verstärkt, hinterfragt, konterkariert, kurzum: interpretiert sie.
Aber braucht eine Johannes-Passion das überhaupt? Vor einigen Jahren ist Andrej Woron am Theater Osnabrück grandios daran gescheitert, das Oratorium in eine Oper zu verwandeln. Andererseits ist die Tanzversion der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier an der Staatsoper Hamburg seit 40 Jahren ein Renner. Und tatsächlich offenbart auch der Abend in Münster die Kraft des Tanzes, in seiner abstrakten Sprache Bachs an sich vollendeter Kunst eine zusätzliche, stimmige Dimension hinzuzufügen.
Einfühlsame Interpretation
Das setzt allerdings die selbstbewusste musikalische Umsetzung voraus. Das gelingt unter der Leitung des Kapellmeisters am Haus, Thorsten Schmid-Kapfenburg. Ein kleines Ensemble des Sinfonieorchesters Münster spielt Bachs Musik im hochgefahrenen Graben mit kammermusikalischer Durchsichtigkeit und einer am Muster des Originalklangs orientierten Interpretation. Der Opernchor des Theaters Münster bleibt zwar bis zum Schlussapplaus unsichtbar, glänzt aber in den ausladenden Chorpartien, die in Umfang und dramaturgischer Funktion mindestens so wichtig sind wie die Solisten. Chorleiter Anton Tremmel hat ihn perfekt vorbereitet und realisiert einen imposanten, ja mächtigen Klang, aus dem kollektives Einfühlungsvermögen spricht: vom introvertiert klagenden Choral bis zum kollektiven Aufschrei.
Die Solisten nehmen die Mittlerfunktion ein, denn sie sind ins choreografische Geschehen integriert. Dabei lässt ihnen Hans Henning Paar Raum, ihren Gesang frei zu entfalten. Und das machen sie wirklich fantastisch: Für Raphael Wittmer wird ein Balkon im Zuschauerraum gewissermaßen zur Kanzel, von der aus er als Evangelist mit lyrischem Tenor durch die Handlung führt. Ihm gegenüber steht auf der linken Seite Stephan Klemm als still-autoritärer Pilatus, vor allem aber überzeugt er in den Bass-Arien mit seiner makellosen, innigen Stimme. Das gilt in gleichem Maß für Bassist Gregor Dalal und seinen mit Ehrfurcht gebietendem Jesus, für Eva Bauchmüller, die mit einem lyrischen „Zerfließe, mein Herze“ den Höhepunkt der Passion markiert. Gleiches kann man auch über Dorothea Spilger mit ihren Alt-Arien und die Tenorarien, die Stefan Sbonnik singt, sagen.
Dieses stimmige Musikensemble gibt dem Tanz die nötigen Impulse für seine eigene, kraftvolle Erzählebene. Paar konzentriert sich dabei auf die emotionale Schicht der Johannes-Passion. Ein paar stilisierte Elemente deuten die Szene im Garten Getsemani an, in der Jesus verhaftet wird. Ansonsten hat Paar als sein eigener Bühnenbildner die Bühne weitgehend leer gelassen. Lediglich ein breiter Kasten wird als Spielelement über die Bühne geschoben, als Symbol fürs Kreuz, als zweite Spielebene oder eben als Tisch fürs Abendmahl.
Hoffnung ist überall
Ganz auf bühnenrealistische Momente will Paar dabei nicht verzichten: Petrus fuchtelt energisch mit dem Schwert, und Judas küsst zum Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ nicht den einen Jesus, sondern etliche aus dem Tanzensemble. Damit wird Paars spirituelle Grundidee deutlich: Jesus ist weniger eine konkrete Person, sondern eine universelle Idee. Damit transzendiert er seine Geschichte. Dadurch schafft er auch die Voraussetzung, um mit dem Tanz die Musik nicht nur zu bebildern, sondern bewusst den harten Kontrast zu suchen und die eigene Erzählebene zu finden.
Das wirft Fragen auf, und manchmal mutet er der Musik auch viel zu – und doch ist die Choreografie immer zutiefst musikalisch. Wenn das Ensemble energisch über die Bühne fetzt, induziert der Stimmungsgehalt der Musik die Energie dafür. Wenn kleine Ensembles Bachs polyphonen Strukturen in Bewegungsmuster übersetzen, wird deutlich, wie genau Paar die Musik kennt. Deshalb wird der Tanz niemals zum Störfaktor, im Gegenteil: Dank hervorragender Lichtregie entstehen bildgewaltige Momente.
So erzählen Hans Henning Paar und sein herausragendes Tanzensemble – sein ehemaliges, muss man sagen – die Johannes-Passion auf der Ebene des Tanzes, ohne die Musik in ihrem Ausdruck zu schmälern. Am Ende gelingt sogar das Kunststück, das Publikum mit einem Moment der Hoffnung in die Nacht zu entlassen. Der Dank dafür schwingt sicher im begeisterten Schlussapplaus mit. Denn was braucht die Welt in diesen Tagen mehr als Hoffnung?