Foto: Oda Thormeyer in „Opening Night“ © Krafft Angerer
Text:Michael Laages, am 17. August 2020
So viel Premiere ist ja selten, normalerweise… Im Augenblick allerdings zählt jeder Neubeginn doppelt, wenn nicht dreifach: wegen des virusbedingten Lockdowns , der mittlerweile bedingt und unter strengen Regeln überwindbar scheint. Die Bedrohung aber bleibt – so empfindet es gestern, bei der ersten Premiere der neuen Spielzeit am Thalia Theater in Hamburg, die Dramaturgin Susanne Meister: „Mit Schrecken müssen wir feststellen, wie verletzbar wir sind!“ Sie alle, die an der Herstellung eines Theaterproduktes mitwirken: das Ensemble natürlich und wir, das Publikum, aber auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Technik und Werkstätten, vom ganzen Betrieb. Kino hat es leichter, die Leinwand infiziert sich nicht. Das Team um die Regisseurin Charlotte Sprenger hat sich im Verlauf der per Video-Konferenz verbrachten Probenzeit für einen ebenso überraschenden wie risikoreichen Weg entschieden – und die für die normale Bühne in der Thalia-Spielstätte Gaussstraße konzipierte Aufführung vor die Tür verlegt: auf den Platz vor den Theaterhallen, wo sich normalerweise das Ensemble während der Proben zum Rauchen und das Publikum vor und nach der Vorstellung zum Trinken, Rauchen und Palavern trifft. Eine bewegliche Rampe gibt’s hier auch, mit deren Hilfe üblicherweise Transporter mit Requisiten und Bühnenteilen be- und entladen werden. Der Platz samt Rampe wurde zur Spielfläche, davor stehen in korrektem Abstand 115 Stühle. Problematisch ist die Akustik – mit normaler Stimme bleiben Schauspielerinnen und Schauspieler in diesem offenen Raum fast unhörbar; mikrophoniert für Kopfhörer auf unseren Ohren sind sie zwar zu verstehen, die Ortung ihrer Positionen im weitläufigen Raum bleibt aber bis zum Schluss sehr verwirrend.
Vor allem wird die kammerspielartige Nähe und Verstrickung im Film-Stoff von John Cassavetes in der Hamburger Hygiene-Version nicht recht spürbar – der gefragte Schauspieler (etwa bei Roman Polanski in „Rosemaries Baby“) und sehr ambitionierte Regisseur Cassavetes erzählte im Film von 1978 die Geschichte einer psychopathologischen Höllen-Gemeinschaft: Schauspielerin Myrtle Gordon und ihr jugendlicher Kollege Maurice Aarons, Autorin Sarah Goode, Produzent David Samuels und Regisseur Manny Victor bringen ein Theaterstück zur Premiere, zur „Opening Night“; daher der Titel. Der weibliche Star allerdings, mit dem Regisseur verheiratet und hingezogen zum jugendlichen Liebhaber-Partner, steht dem Stück und sich selber im Wege. Mit dem eigenen Altern kommt sie nicht klar, in einer jungen Autogrammjägerin sieht sie womöglich das eigene Jugend-Bild; dann wird dieses Mädchen auf dem Fahrrad überfahren (sagt und sieht Miss Gordon), und die Psychose bricht endgültig aus. Generell aber ist dieses Team ein Rattennest, niemand ist zufrieden mit der eigenen Rolle, und Frust schafft Aggression auf allen Seiten.
Eigentlich fallen alle ständig übereinander – das Stück fordert also Nähe, also genau das Gegenteil der gerade verbindlich vorgeschriebenen Distanz. Charlotte Sprenger macht das Bestmögliche draus: mit geschickter Einbeziehung des (unbenutzten) Theaterraums drinnen, wo das Ensemble angeblich die eigentliche Premiere spielt (und mit Beifall vom Band belohnt wird), und uns Publikum als Voyeure auf der virtuellen Hinterbühne. Wirkliche Nähe aber kann (und darf ja) nicht entstehen – und die Mikrophon-Stimmen verschärfen das Problem noch. Das 70er-Jahre-Revival in den Kostümen von Aleksandra Pavlovic sorgt allerdings für echte Hingucker-Effekte, und das komplette Ensemble ist musikalisch aktiv: „Diva“ Oda Thormeyer und „Autorin“ Gabriela-Maria Schmeide, „Lover“ Merlin Sandmeyer, „Produzent “Thilo Werner und „Regisseur“ Rafael Stachowiak. Philipp Plessmann sorgt generell für schrillen 70er Jahre Klang.
Eine ruppige, glutäugig-schwarzfellige Monster-Amöbe taucht auf und stellt das Theater an sich in Frage. Ulkig. Vieles wirkt (oder wird) improvisiert, den Reiz „unzuverlässiger Dialoge“ beschwört die Dramaturgie. Das stimmt – und wo derart wenig Gemeinschaft entstehen kann, wächst der Wahn der Vereinzelung. Auch das wollte Cassavetes zeigen, wie nah auch immer sich die Leute auf die Pelle rückten in der „Opening Night“. In dieser quasi dreifachen Premiere (für Stück, Saison und Theaterleben überhaupt) bekommt das an sich starke Stück einen fremden, befremdlichen Klang.