Szene aus "Superbusen"

Das andere Chemnitz

Paula Irmschler: Superbusen

Theater:Theater Chemnitz, Premiere:19.03.2022 (UA)Vorlage:nach dem gleichnamigen RomanRegie:Kathrin Brune

Leere Straße, Industrieruinen, ostmoderne Betonwüsten. Viele Nazis, kein Fernverkehr. Wer schon einmal einen Fuß nach Chemnitz gesetzt hat, weiß: Die ehemalige Karl-Marx-Stadt will zwar lieber Bunt als Grau oder Braun sein (so heißt es zumindest auf Plakaten), aber Wollen und Sein waren schon immer zwei verschiedene Schuhe. So geht es auch vielen Chemnitzerinnen und Chemnitzern, vor allem den jungen, den progressiven, den Frauen.

Sie pendeln zwischen Aushalten und Wegziehen, Anpassen und Rebellieren, Erwachsenwerden oder Jugendlich bleiben, zwischen dem Willen, in der Welt zu wirken, sich zu emanzipieren, feministisch, antifaschistisch und progressiv zu sein und dem Drang, sich vor ihr zu verbergen. Eine von ihnen ist Protagonistin Gisela. Die Dresdnerin, die zum Studieren in die Stadt der niedrigen NCs kam, übergewichtig, aus der Unterschicht.

Ihr hat Titanic-Redakteurin Paula Irmschler mit ihrem Roman „Superbusen“ (der Name von Giselas Band) ein literarisches Denkmal gesetzt – und gleichzeitig sprach sie damit einer ganzen Generation Chemnitzerinnen und Chemnitzer aus dem Gemüt, all den jungen Menschen der Generation Y, die orientierungslos und verloren durch ihre Zwanziger taumeln. Lost in Chemnitz – tatsächlich und metaphorisch. Die Autorin verarbeitet persönliche Erfahrungen, schöpft aus ihrer eigenen Studienzeit in Chemnitz.

Kein Wunder also, dass die Bühnenadaption des Stoffes aus Chemnitz kommt. Kathrin Brune, Dramaturgin und Regisseurin des städtischen Schauspielhauses nahm sich des Romans an, wagte den Sprung von der Schrift in Bild, Ton und Jagdwurstgeruch. Das Stück wurde am Samstag im Ostflügel des sogenannten Spinnbaus, der neuen Interimsspielstätte des Chemnitzer Schauspielhauses uraufgeführt.

Galopp durch Baustellen

Dabei lässt sie der Hauptfigur mit ihren Geschichten und Erinnerungen, der ständigen Selbstreflexion, viel Raum. So viel, dass sie sie nicht in eine einzelne Spielerin presst, sondern gleich auf drei Schauspielende aufteilt. Ein kluger und vor allem wirkungsvoller Schritt, denn die moderne Frau ist facettenreich und zwiegespalten in ihrem Wollen und Sein. Magda Decker, Clemens Kersten und Andrea Zwicky setzen dies mit Bravour um. Mal zeugt Sprechen im Chor von Einigkeit, sie agieren dann wie ein Organismus. Oft jedoch drängeln sie um Aufmerksamkeit: diskutieren, schieben sich gegenseitig unangenehme Sprechrollen zu.

Drei sind nicht zu wenig, denn thematisiert wird viel und hastig: Der Struggle mit der eigenen Herkunft, weibliche Selbstbehauptung, das Ringen um ein gutes Körpergefühl, Essstörungen, Masturbation und Orgasmushemmungen, Menstruationsschmerzen, Abtreibung, verantwortungslose Männer und Freundinnen, mit denen der Gedanke an Umstürze, Revolutionen und Reisen endlich möglich wird. „Hauptsache gemeinsam“ wird zu Losung. Sie gründen eine Band mit dem Namen Superbusen.

Kathrin Brune ließ sich übrigens nicht lumpen und gründete für ihre Uraufführung tatsächlich eine Band und landete einen Glücksgriff: Kati Hollstein, Heidi Enderlein und Jenny Kretzschmar (auch Jens Ausderwäsche und Leadsängerin der Band Baumarkt) fanden extra für die Aufführung zusammen, kommentieren mit postrockigen Nummern und frechen Einschüben die Erzählungen der Giselas – stark! Untermalt wird das Konzert-Bühnensetting mit der dritten Rolle neben Gisela und Band: Chemnitz. Auf zwei Bildschirmen und in Projektionen sind Bilder und Videos des Media-Künstlers Peter Rossner. Sie zeigen Betonwüsten, Ruinen, Leere – Chemnitz von seiner schlimmsten Seite.

Die andere Seite

Eine visualisierte Feindlichkeit, die ihren Gipfel mit den rechtsextremen Ausschreitungen im Spätsommer 2018 erreicht, die im Stück als kaum erträgliches Störgeräusch dargestellt werden. Danach: Stille, Fassungslosigkeit. Diskutieren. „Wie konnte es passieren? Wie haben es die Nazis geschafft, innerhalb von 24 Stunden so viele Menschen auf die Straße zu bringen – und die Linken nicht?“ fragen sich die Giselas – eine Frage, die vermutlich bundesweit vielen auf der Zunge lag.

Antworten gibt es nur vom individuellen Beispiel. Lösungen und Ratschläge verkneift sich die Inszenierung dankenswerterweise. Doch die bunten Momente – es gibt sie. Auch das zeigen Stück, Buch, Musik und Bildinstallation: im Drinnen, im Kleinen, in Oasen, bei WG-Feiern an Orten wie dem Weltecho und dem Aaltra. Auch das ist Chemnitz, auch dort gibt es junge Menschen, die mit sich und der Welt hadern. Aber das tun sie in Kassel, Bielefeld und Dortmund auch, auch da ist Gisela und das ist gut so.