Foto: Nicole Wacker (Formica) und Dietrich Henschel (Salvatore) in der „Ameise“ © Bettina Stöß
Text:Andreas Falentin, am 15. Dezember 2025
Die Oper Bonn hat „Die Ameise“ ausgegraben, eine Oper von Peter Ronnefeld aus dem Jahr 1961. Das Stück ist surreal, absurd und psychologisch – und beeindruckt mit unterhaltsamer Musik. Die Regie von Kateryna Sokolova ist bildstark, die Besetzung überzeugt.
Wer kennt heute Peter Ronnefeld? Er war ein strahlendes Talent der Dirigentenszene, Assistent von Karajan, 1961 Chefdirigent in Bonn, 1963 GMD in Kiel mit beachtenswerten Operndirigaten, etwa in Wien. Er spielte Cembalo im Concentus Musicus bei Nikolaus Harnoncourt und war eng mit Thomas Bernhard befreundet. 1965 ist er gestorben – an Krebs, mit 30 Jahren. Und vier Jahre zuvor hat er seine erste Oper geschrieben: „Die Ameise“. Die Oper Bonn führt das Werk jetzt erstmals seit 1969 wieder auf. Und es ist ein Wurf!
Im Kern geht es um die Beziehung zwischen dem Gesangslehrer Salvatore und seiner Schülerin Formica (was auf Latein oder Italienisch „Ameise“ heißt). Salvatore ist ein einsamer alter Herr, lebt nur für die Gesangskunst – und verliebt sich in seine Schülerin. Formica ist sehr jung und will nur lernen. Irgendwann ist sie tot, und Salvatore sitzt zwei Tage neben ihrem Leichnam. Hat er sie umgebracht? Wir erfahren es nicht, aber er hat in der Beziehung eine Grenze überschritten, das ist sicher. Er wird wegen Mordes verurteilt und im Gefängnis fliegt ihm eine Ameisenkönigin zu, die er hegt. Er will ihr das Singen beibringen. Am Ende wird er begnadigt, und die Ameise wird achtlos zertreten. Salvatore stirbt – oder tritt von der Bühne ab –, weil er keine Möglichkeit mehr sieht, mit Formica eine gleichberechtigte Beziehung zu führen.
Solo, Duo, Trio
Das klingt natürlich erst einmal krude. Aber es kommt eine Musik dazu, die ausschließlich aus Rhythmus und Klangfarben besteht, oft in Soli, Duos und Trios arrangiert ist und wenig Tutti-Klang bietet. Für das sehr gute Beethoven Orchester ist die Partitur eine Herausforderung, weil man alles solistisch, schutzlos hört. Auch gibt es keine hörbare musikalische Struktur, keine Melodien, dafür viele inhaltliche Bezüge: Parodie, Ironie, Anspielungen.
Es beginnt im Gerichtssaal: „Wir besuchen regelmäßig Prozesse! Wir können uns ein Urteil erlauben!“, singt der sich in Bestform befindende Chor. Formicas Mutter tritt in den Zeugenstand und beweint nur die „geliebte Tochter“. Staatsanwalt und Verteidiger – beides Sprechrollen – befehden sich. Der erste Akt ist sehr unterhaltsam, obwohl das Publikum eigentlich nichts erfährt, weil nur Situation stattfindet, aber keine Handlung.
Im zweiten Akt geht es etwas ruhiger zu. Der Bühnenbildner Nikolaus Webern hat es geschafft, das Gefängnis in den klassischen Gerichtssaal des ersten Aktes zu stellen. Er lässt ein Gitter und eine weiße Wand aus dem Schnürboden herunter. Die Wand ist auch Projektionsfläche für ein Schattenspiel, also ein Spielort für Verdopplungen, Verzerrungen und Spiegelungen, die im Libretto von Richard Bletschacher und Peter Ronnefeld eine wesentliche Rolle spielen. Natürlich ist die Ameise auch Formica, seine Schülerin, und ihr Lehrer vollzieht ihre Ausbildung an der Ameise noch einmal nach. Aber die Ameise ist auch ein Godot oder Harvey. Es geht immer um Theatergeschichte, um Einflüsse und um Anspielungen.
Surrealismus und das Absurde überwinden
Im Vorwort zum Libretto behauptet Bletschacher, dass er Surrealismus und das Absurde auf der Theaterbühne überwinden könne – „durch den Glauben“. Er strebt also, sozusagen in der Vermittlung, ins Neue. Regisseurin Kateryna Sokolova glaubt zumindest an das Stück. Sie macht es groß durch farbige Kostüme (von Constanza Meza-Lopehandia) und eine sehr choreografische Personenführung (unterstützt von Choreograf Sebastian Eilers), sodass die Fabel plastisch, fast kolportageartig wirkt.
Sokolova spürt Themen nach: der Einsamkeit, den Geschlechterrollen, der Rolle der Öffentlichkeit. Sie lässt der Musik ihr Recht, stellt ihr Spiel nie vor den Klang. Dass der erste Akt ein wenig nach Hindemith klingt, das Zwischenspiel im zweiten Akt nach Berg, lässt sie zu. Das große Terzett im dritten Akt klingt ein bisschen nach dem Quartett aus „Don Giovanni“, und die Koloraturen des Fassadendiebes, eines Zellengenossen, hören sich verdächtig nach Wagners Beckmesser an. Hier arbeitet die Regie durchaus behutsam, bringt die Bezüge zum Klingen ohne sie auszustellen – wie auch Daniel Johannes Mayr, der musikalische Leiter der Vorstellung, der ihr viel musikalisches Feuer gibt, aber das kostbare Kleinod nie kaputtdirigiert.
Auch die Besetzung ist Extraklasse. Dietrich Henschel als Salvatore: ausstrahlungsstark, wortverständlich, mit großer Körperspannung und choreografischer Genauigkeit. Nicole Wacker als Formica: höhenstark und musikalisch genau, jung wirkend und sehr charmant. Susanne Blattert (als Mezzo-Mutter), Ralf Rachbauer (als Diener mit sehr frischem Tenor) und Mark Morouse (als sehr parodistischer Kollege) beglänzen den ersten Akt. Jan Rusko (mit ein paar Intonationsproblemen in der Höhe) ist ein starker Partner als Wärter im zweiten Akt. Carl Rumstadt und Tae Hwan Yun spielen sehr lustige Zellengenossen, und Svenja Wasser sowie Roland Silbernagl ergänzen auf hohem Niveau als Schauspieler.
„Die Ameise“ in Bonn lohnt sich. Es ist wunderbar, dass das Haus es geschafft hat, dieses lebendige Stück zurück auf die Bühne zu holen. Umso wichtiger wäre, dass es in den nächsten Jahren nachgespielt wird, um das Repertoire zu ergänzen.
Schlussbild der „Ameise“ an der Oper Bonn. Foto: Bettina Stöß