Foto: Die Wasserspeier beobachten Quasimodo und Esmeralda. © Bettina Stöß
Text:Marion Meyer, am 16. November 2025
Am Aalto-Theater inszeniert Co-Intendant Armen Hakobyan „Der Glöckner von Notre-Dame“. Dabei beeindrucken vor allem die Bühne und der hochdramatische zweite Akt.
Am Ende des ersten Aktes ist es so weit: Quasimodo (Enrico Jozef Vanroose) kann seine angebetete Esmeralda (Yuki Kishimoto) endlich in den Armen halten. Ein langer Kuss entsteht. Mit dem schönen Pas de deux der beiden gelingt ein erster emotionaler Höhepunkt des Abends: Die beiden umschmiegen und umschlingen sich, bilden organisch ein Ganzes. Er lässt sie in seinen Armen pendeln wie die Glocken der berühmten Kathedrale Notre Dame, die er sein Zuhause nennt, seit er hier als Findelkind aufgenommen wurde.
Armen Hakobyan, Co-Intendant des Aalto Ballett Essen, hat mit dem bildgewaltigen „Der Glöckner von Notre-Dame“ sein erstes abendfüllendes Handlungsballett entworfen. Vergangenes Jahr hatten er und Marek Tůma die Leitung in Essen übernommen. Der gebürtige Armenier gehört jedoch bereits seit 2010 zum Aalto Ballett Essen, zunächst als Tänzer, später auch als Choreograf. Seit 2018 war er dort Ballettmeister.
Beeindruckende Bühne
Schon seit seiner Kindheit war er fasziniert von Victor Hugos Stoff aus dem Jahr 1831, sah die Verfilmung von 1956 mit Anthony Quinn und Gina Lollobrigida im Fernsehen. Seine Inszenierung ist nun ebenfalls im mittelalterlichen Paris angesiedelt und wurde nicht in die Gegenwart transponiert. Man wähnt sich in einem farbigen Kostümfilm der 50er Jahre, ein wenig mehr Mut zur Gegenwart hätte hier vielleicht nicht geschadet. Die Kostüme wie das opulente Bühnenbild stammen von Ramon Ivars. Mithilfe von gigantischen beweglichen Wandkonstruktionen aus gotischen Bögen entstehen immer wieder neue Ansichten der mittelalterlichen Kathedrale, dramatisch in Licht und Schatten getaucht (Lichtkonzept: Armen Hakobyan und Philipp Kühl). So wird die spektakuläre Bühne mit buntem Rundfenster zum heimlichen Hauptdarsteller des Abends.

Das Ensemble tanzt vor einem großen Buntglasfenster. Foto: Bettina Stöß
Nebel wabert immer besonders bei den Auftritten von Frollo (Moisés León Noriega), dem düsteren Priester, der ebenfalls um Esmeraldas Gunst wirbt. Er wirft sich vor der Angebeteten in den Staub, bevor er sie dann einfach mit Gewalt nimmt. Ausdrucksstark und expressiv verkörpert er, was es bedeutet, mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Dagegen ist Quasimodo eine Frohnatur. Naiv wie ein Kind wirkt er in seinem mittelalterlichen Sackkleid wie aus der Zeit gefallen. Doch äußerlich entstellt oder missgebildet ist er hier keineswegs, trotzdem ein einsamer Außenseiter. Mit den liebenswerten Gargoyles, grotesken Wasserspeiern, die normalerweise zu Stein erstarrt das Dach der Kathedrale zieren, treibt er seine Späße.
Theatrale Tiefe
Beschwingt spielen die Essener Philharmoniker dazu auf. Wolfram-Maria Märtig (musikalische Leitung) hat spätromantische Werke von u. a. Schostakowitsch, Rachmaninow, Franz Schreker und Erich Wolfgang Korngold ausgewählt und auch selbst komponiert, alles sehr theatrale Musiken, die nicht für Tanz geschrieben wurden, sich aber mit dem überwiegend ans klassische Ballett angelehnten Bewegungsvokabular aus vielen Drehungen und Sprüngen bestens verbinden und die emotionale Seite betonen.

Esmeralda versucht sich vor Quasimodo und Frollo zu schützen. Foto: Bettina Stöß
Denn im zweiten Akt nach der Pause wird es hochdramatisch, wenn der Konflikt um Liebe und Eifersucht vollends entbrennt. Ein Mord geschieht, eine Hinrichtung folgt, ein ergreifender Totentanz, und am Ende ist Quasimodo wieder so einsam wie zu Beginn. Während der erste Akt vielleicht etwas zu viele sich ähnelnde Gruppenchoreografien bietet, unter anderem mit Schüler*innen des Fachbereichs Tanz am Gymnasium Essen-Werden, besticht der zweite Akt durch theatrale Tiefe und bewegende Pas de deux, auch zwischen der zarten Esmeralda und ihrem geliebten Soldaten Phoebus (Artem Sorochan). Ganz in zeitgenössischem Gestus begehren die Freundinnen von Esmeralda gegen das Ende der Tänzerin auf. Doch wie so oft ist es das Böse, am Aalto-Theater in der Figur des Frollo, das am meisten fasziniert: Er besitzt jene Gebrochenheit, die der grundsympathische Quasimodo hier etwas vermissen lässt.