Aufführungsfoto von „Mysteryland“ von Sarah Kilter am Theater Aachen. Zwei Frauen mit schusssicheren Westen und der Aufschrift Security stehen nebeneinander. Im Hintergrund links reckt ein älterer Mann seine Arme durch Gitterstäbe.

Aufstieg im Hasenkostüm

Sarah Kilter: Mysteryland

Theater:Theater Aachen, Premiere:14.11.2025 (UA)Regie:Anne Habermehl

Autorin Sarah Kilter zeigt in der Uraufführung ihres neuen Stücks „Mysteryland“ am Theater Aachen eine durchweg ungerechte Welt. Regisseurin Anne Habermehl verpackt die märchenhafte, dichotomische Szenerie mit Scharfsinn und Witz, in der die Protagonistin nach sozialem Aufstieg strebt – und sich als Maskottchen wiederfindet.

Die Welt ist zweigeteilt und vielstimmig. Dichotomisch ist sie in Hinsicht auf die Verteilungsungerechtigkeit. Menschen auf der Habenseite, bei Kilter firmiert deren Terrain unter „Nabel“, amüsieren sich im Vergnügungspark. In seiner Mitte prangt Kathedralengleich eine Achterbahn ungeheuren Ausmaßes. Ferner locken Zuckerwatte und Bespaßung durch lustige Maskottchen. Hingegen fristen die Bewohner des „Randes“ ihr prekäres Dasein durch unterbezahlte Werktätigkeit.

Vielstimmig ist die Welt dieser Benachteiligten. Ihr Los nötigt zu Assoziationen mit den Bewohnern der Banlieues, des „Globalen Südens“ und selbst der einstigen DDR. So spricht aus „Sie“ – der Zentralfigur der Novität – die Stimme der gesellschaftlichen Deklassierung. Aus ihr tönen zugleich die mannigfachen Weisen des Ausgeschlossen-Seins.

Von der Peripherie in den „Nabel“

Bei Sarah Kilter erwächst aus solcher Paradoxie ein sprachliches Virtuosen-Stück, in dessen Mitte das Verlangen nach Überwindung der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Beitritt zur Gemeinschaft der Wohlhabenden ihre Zentralfigur durchglüht. Doch ist Klassenkampf nicht ihre Sache. „Sie“ setzt wie Unzählige vor ihr auf Arbeitsmigration. Tatsächlich gelingt ihr die Übersiedlung von der Peripherie in den „Nabel“. Als Maskottchen im Hasenkostüm. Ihre Anstrengungen, sich im Vergnügungspark zu behaupten, münden im seelischen und körperlichen Zusammenbruch.

Aufführungsfoto von „Mysteryland“ von Sarah Kilter am Theater Aachen. Links vorne steht ein überdimensionierter Hase. Weiter hinten lehnt eine Frau in Polizeiuniform an einer Telefonzelle.

Karriere im „Nabel“. Sie als Maskottchen (Elina Schkolnik) und Security (Bettina Scheuritzel). „Mysteryland“ von Sarah Kilter am Theater Aachen. Foto: Thilo Beu

Die Autorin meidet jeden Anflug von Sozialreportage, rückt das Geschehen gar in die Bezirke des Märchens. Der Freizeitpark, eben das „Mysteryland“, weist über sich hinaus auf Zaubergärten, Märchenschlösser und Disneyland. Die Grenze zwischen den Territorien der Privilegierten und der Deklassierten lässt an Mauer, Stacheldraht und zugleich den Bannkreis ums Feenreich denken. Fröhliche Urständ feiert das Dingsymbol: wie Reliquien aufbewahrte Milchzähne als familiäre Glücksverheißung an Kinder und Eltern.

Finaler Zusammenbruch

Regisseurin Anne Habermehl eröffnet für Elina Schkolnik reiche Optionen, „Sie“ in irisierender Vielfalt aufscheinen zu lassen. Das ist Schauspielerinnentheater voll Scharfsinn, Witz und Poesie. Bei solcher scheinbaren Nonchalance und tatsächlichen Fokussiertheit greift der finale Zusammenbruch desto heftiger ins Gemüt. Die Degradierung der Grenzwächterin „Security“ und des, die Ambitionen der Zentralfigur hinterfragenden, Peripheriebewohners „A“ zu bloßen Stichwortgebern liegt nahe. Indessen wertet Habermehl sie zu echten Dialogpartnern der jungen Frau auf. Bettina Scheuritzel und Torsten Borm schöpfen die sich ergebenden Optionen aus.

Das Terzett der professionellen Spielenden wird ergänzt durch einen „Chor“ aus vier Aachener Frauen. Aus Telefonzellen sich wechselseitig anrufend, tauchen sie die Begebnisse in babylonische Perspektivenvielfalt. Für all dies ersinnt Christoph Rufer einen dreiseitig vergitterten Bühnenraum, in dem allenfalls vertikale Lichterketten auf den Freizeitpark verweisen. Es braucht nicht mehr.