Die Wohnung eines Architekten stellt man sich anders vor: Ein Dachgeschoss mit hölzernen Stützbalken, schrägen Wänden und liegenden Fenstern. Im Zentrum der breiten Bühne eine schnöde Küchentheke mit IKEA-Hockern, die restliche Einrichtung ein Mix aus Midcentury, Stahlrohrtischchen und selbstgebauten Regalen (Ausstattung: Manuel Kolip). Für einen Architekturguide oder ein Magazin zur Inneneinrichtung reicht das nicht aus. Der Architekt Richard und die Lehrerin Claire leben offenbar nicht nur ökonomisch, sondern auch in Sachen Design am Rande des Prekären.
Flavia Costes Konversationskomödie „Nein zum Geld“ – 2017 in Paris uraufgeführt, zwei Jahre später folgte am Berliner Renaissance Theater die deutsche Erstaufführung – konfrontiert in einem Laborversuch ihre Figuren mit der simplen Frage: Geld oder Moral – oder beides? Richard und Claire haben seine Mutter Rose und seinen Chef Etienne zum Essen eingeladen. Der Braten ist in der Röhre, der Aperitif und das Knabberzeug vorbereitet. Die moralische Rutschbahn ist poliert für Richards Ankündigung, dass er 162 Mio. Euro im Lotto gewonnen, den Gewinn aber abgelehnt hat. Der Anlass der Einladung, der zunächst das Geheimnis des Hausherrn bleibt, wird allerdings verschieden interpretiert:
Während Richard und Claire im Casual Look mit Rolli, Jeans, Billigbluse, Birkenstock und Wollsocken durch ihre Wohnung surfen, haben die Gäste aufgelegt: Mutter Rose im schlichten, aber gut sitzenden schwarz-weiß-gestreiften Sommerkleid präsentiert freimütig ihre letzten Tinder-Erlebnisse, changierend zwischen dem Leid der alternden Frau, dem Selbstmitleid der allein gelassenen Mutter und abgeklärter 68er-freie-Liebe-Propaganda. Etienne wiederum hat einen lachsfarbenen Anzug angezogen und gibt ganz den versierten Chef eines Architekturbüros, der in allen Stillagen Konversation machen kann.
Eskalation am Esstisch
Der Laborversuch kann beginnen: Richard fügt zunächst wie ein Zeremonienmeister ein Ritardando ans nächste, bevor er seine Bombe platzen lässt. Marcus Abdel-Messih spielt das ohne jeden ironischen Unterton, gibt den Gipfelstürmer des moralischen Mount Everest, wenn er behauptet: „Auf das Geld habe ich nur wegen euch verzichtet“ und stilisiert sich selbst zum Kämpfer für eine „gerechtere Gesellschaft“ zum heiligen Antonius in der Wüste des Kapitalismus. Inklusive aller Klischees, dass Geld nicht glücklich, sogar wahnsinnig macht und den Charakter verdirbt. Was die Schauspielerin, Filmemacherin und Autorin Flavia Coste dann aneinanderreiht, ist ein dramaturgisches Reißbrett mit Yasmina Reza-Flavour, ohne allerdings die Abgründigkeit der großen Autorenkollegin zu erreichen.
Das Stück spielt wie in einer Analyse die Reaktionsschemata durch. Zunächst werden die Figuren durch die Gefühlsamplituden der Enttäuschung gejagt: Ungläubigkeit, Zynismus, Wut, Empörung. Richards Mutter bekommt einen veritablen Asthma-Anfall, sein Chef will sich schier aus dem Dachfenster stürzen – und übergibt sich einfach in die Tiefe. Die Claire der Cynthia Thurat wiederum beißt voller Wut in einen Strauß Petersilie und gebärdet sich fortan als wandelnde Zeitbombe. Als Lehrerin sorgt sie für das Auskommen der Familie, kümmert sich gleichzeitig um das greinende Baby – und (nicht nur) an diesem Abend auch noch um das Essen. In ihr spiegelt sich die Erschöpfung einer Galeerensklavin der bürgerlichen Ehe, die sich zerreibt zwischen Küche, Kinderzimmer und Job – alles für den vermeintlich kreativen Ehemann.
Groteske und Gesellschaft
Es werden Bilanzen aufgemacht, die die enge Verzahnung von bürgerlichem Gefühls- und Finanzhaushalt offenbaren: Nicht nur Claire rechnet ihrem Mann vor, was seine vermeintliche Selbstverwirklichung als Träumer kostet; auch Etienne hat sich maßlos verschuldet, weil er an Richards marktferne utopische Architektur trotz allem glaubt. Und auch Mutter Rose holt das weinerliche Muttersöhnchen mit seiner Sehnsucht nach seinem früh verstorbenen Vater auf den Boden der finanziellen Tatsachen. Und man geht sich sogar gegenseitig an den Kragen, wenn Mutter und Schwiegertochter sich ein paar Tiefschläge versetzen. Richard wird in der Inszenierung des Grenzlandtheaters regelrecht zur Inversion eines Tartuffe.
Wo Molieres Titelfigur religiöse Moral heuchelt, um an Geld und Besitz zu kommen, verzichtet Richard aus moralischen Gründen aufs Geld – ohne seiner bürgerlich-kapitalistischen Doppelmoral und ideologischen Selbstüberhöhung innezuwerden. Es ist diese ungebrochen moralisch-naive Konstanz der Figur, die zutiefst konstruiert-laborhaft wirkt – oder grotesk. Denn als das Trio entdeckt, dass der Lottoschein noch gar nicht verfallen ist, entwickelt sich eine Tour de Force, um Richard den Schein zu entwenden – Morddrohungen und sogar ein Mordversuch inklusive.
Varianten einer Komödie
Vielleicht zeigt die Inszenierungsgeschichte des Stücks in Deutschland genau diese Ambivalenz: Während Shirin Khodadadian vor sechs Jahren in Stuttgart eher die groteske Seite des Stücks betonte, wurde in Berlin eher auf die Konversationsebene gesetzt. Auch wenn die Figuren sich eine slapstickhafte Verfolgungsjagd über das im Hintergrund angedeutete Dach der Wohnung liefern, der Homo oeconomicus absurd-bedrohlich die Zähne fletscht und der Lottoschein schließlich mit dem elektrischen Bratenmesser aus Richards Mund operiert wird – die Aachener Inszenierung löst nie ganz den Anker zum immer bedrohten bürgerlichen Gefühlsmanagement.
Ihr vielleicht größtes Plus hat sie deshalb in der nur mühsam ihre Wut kanalisierenden Claire: Darin scheint weit mehr auf als die Empörung über den verschleuderten Lottogewinn. Die Erbitterung der Deprivierten wird darin genauso erkennbar wie der Hader mit dem Unbehagen in der Kultur; aber auch die Sehnsucht nach dem Umschlag ins Groteske und dem mänadischen Furor – vielleicht ein erstes Aufflackern der Wutbürgerin? Am Ende: Standing Ovations.