Zum Tod von Jürgen Flimm

Jürgen Flimm war Intendant in Schauspiel, Oper und bei Festivals, er war Präsident des Deutschen Bühnenvereins und ein bedeutender Regisseur. Ein Nachruf des Kritikers Michael Laages, der Flimms Theaterarbeit lange begleitet hat.

Im Alter von 81 ist der Regisseur und Theatermensch Jürgen Flimm gestorben. Geboren wurde Flimm im Sommer 1941 im hessischen Gießen; in Köln ist er aufgewachsen und zur Schule gegangen, dort hat er studiert. Fast wäre er Schauspieler geworden, aber dann studierte er zunächst Theaterwissenschaft. In Köln und Bonn entstanden erste studentische Inszenierungen, Regie-Routinier Hans Schweikart vermittelte ihm die Regie-Assistenz an den Kammerspielen in München, wo noch Fritz Kortner wirkte. Hier hat Flimm die Kollegin Inge Jansen kennengelernt und geheiratet; die Ehe hielt nicht – die Regisseurin Inge Flimm ging ihren eigenen Weg und starb 2017.

Der große Umarmer

Das Nationaltheater in Mannheim war dann Jürgen Flimms erste Station im Stadt- und Staatstheater, 1973 holte ihn Boy Gobert erstmals ans Thalia Theater nach Hamburg. Erwartet habe er sich eigentlich nichts vom Besuch am Alstertor, erzählte er später; das Thalia Theater galt Anfang der 70er Jahre eher als spießbürgerliche „Bruchbude“. Aber dieser erstaunliche Gobert habe ihn bei sehr viel Rotwein genauso erfolgreich überzeugt wie später er selber, Jürgen Flimm, viele für sich gewonnen habe: als der große Umarmer.

Intendant war Flimm dann aber erstmals „zu Hause“, 1979 am Schauspiel in Köln. 1985 kehrte er nach Hamburg zurück, als Intendant des Thalia Theaters, für 15 Jahre. Leitungsfunktionen bei der Ruhrtriennale und den Salzburger Festspielen folgten, ab 2010 dann nochmal acht Jahre als Hausherr an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Präsident des Deutschen Bühnenvereins war Flimm von 1999 bis 2003, in seine Zeit fällt die Initiative für den deutschen Theaterpreis, den „FAUST“. Gründer und Ideenstifter war er öfter: etwa, als in Hamburg erst der Regie-Studiengang und später die „Theaterakademie“ entstand oder der lokale Kulturförderer Kurt A. Körber dafür gewonnen wurde, ein Nachwuchstreffen für junge Regisseurinnen und Regisseure mit zu finanzieren am Thalia Theater – es trägt seither den Namen des Mäzens: „Körber-Studio für junge Regie“. Als Chef der Salzburger Festspiele holte er für ein ähnliches Junge-Regie-Projekt einen edlen Büro-Ausstatter ins Festival-Boot. Und schon bei Gobert half er mit, dem Thalia Theater eine neue kleine Spielstätte zu sichern: in der alten Kunsthalle. Wenn übrigens die Erinnerung nicht täuscht, gehörte Flimm auch zu den Strippenziehern, die dem frisch gewählten Bundeskanzler Gerhard Schröder noch in der Wahlnacht 1998 einredeten, dass jetzt dringend ein Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten benötigt werde.

Theater-Schnack der besonderen Art

Vielleicht schon in Köln, aber spätestens in Hamburg entstand ein familiärer Theater-Schnack der besonderen Art: Flimm war „Onkel Jürgen“, und selbst Kritikerinnen und Kritiker durften diesen Ehrentitel gelegentlich verwenden. Wenn sie sich nicht gerade stritten wie die Kesselflicker mit dem Thalia-Hausherrn, in jener Zeit etwa, als die Lokalderby-Schlachten mit Frank Baumbauers Schauspielhaus auf der anderen Seite vom Hauptbahnhof Premiere für Premiere neu entschieden wurden. Den Konkurrenten schmähte Flimm lautstark als Hasardeur, der das Haus an die Wand fahre mit Gästen wie Castorf und Marthaler. Der Kritiker hielt dagegen, so gut er konnte – und erst der Schauspieler Hans-Christian Rudolph, einer von Flimms wichtigsten Protagonisten, konnte Frieden stiften: mit Hilfe von zwei Gläsern „Wodka für Erwachsene“, also ziemlich großen …

Flimm konnte reden mit jeder und jedem, wo immer er gerade Partnerinnen und Partner brauchte. Er schloss auch Frieden mit Lautsprechern der hanseatischen Politik, die den „Linksradikalen vom Alstertor“ bald nach dem Intendanz-Start 1985 scharf attackierten. Die lokale Springer-Presse tutete ins gleiche Horn. Kein Wunder eigentlich, denn dieser Jürgen Flimm bezog Position – stellte sich etwa mit Kolleginnen und Kollegen vom Theater zwischen Polizei und Hausbesetzer, als der Kampf um die Hafenstraße zur offenen Feldschlacht zu eskalieren drohte.

Rückhaltlos zugewandt

Eine rheinische Frohnatur? Sicher war Jürgen Flimm auch das, und immer (so benennt es ein Freund und Kollege aus frühen Thalia-Tagen) war er rückhaltlos „zugewandt“: dem Publikum, der Literatur, dem Ensemble, der Stadt. Aber zugleich war dieser freundliche Mensch bei Bedarf streitbar wie wenige sonst, speziell, wenn es um „sein Theater“ ging, ob in Köln, in Hamburg oder in den acht Jahren als Chef der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Immer sei er „mit Herz und Seele und Leib und allem, was Sie wollen, Regisseur“ gewesen, erst im Schauspiel, dann im Musiktheater – beide Karrieren haben in den 1970er Jahren begonnen.

Entspannte Klugheit und beharrliche Handwerklichkeit, das blieben Markenzeichen des Regisseurs. Etwa bei der unvergessenen „Platonow“-Inszenierung am Thalia Theater: Flimm gehört zu denen, die Tschechow wiederentdeckten für den Geist der Zeit. Neidlos aber stellte der Thalia-Hausherr herausragende Meisterinnen und Meister neben das eigene Profil: Jürgen Gosch und Robert Wilson etwa, die er mitgebracht hatte aus Köln, oder auch die große Einzelgängerin Ruth Berghaus, die als Schauspiel-Regisseurin aus der DDR nach Hamburg kam.

Zum modischen Bilderstürmer und Stücke-Zertrümmerer hatte Flimm überhaupt kein Talent, ihn interessierte die „Innensicht“ von Theatertexten wie von Libretti und Partituren im Musiktheater. Er wollte für ein Theater stehen, das sich „mit der mangelnden Barmherzigkeit“ beschäftigt – was für ein Gegenentwurf zu den Spektakeln der Moderne! Wenn Jürgen Flimm überhaupt eine Vision nachgesagt werden konnte, dann akkurat die: Menschlichkeit zu zeigen, so fundamental wie irgend möglich. Das war Politik für ihn – wo sonst als in der Kirche und im Theater, so hat er die eigene Verpflichtung formuliert, träfen sich Menschen miteinander, um sich ihrer selbst zu vergewissern und der Welt, in der sie leben? Wer ihn so kennenlernen durfte über fünfzehn Hamburger Thalia-Jahre hin, mit Tiefen natürlich und mit vielen Höhen, insgesamt betrachtet aber in der womöglich schönsten Zeit, darf jetzt, fast 40 Jahre später, im Erinnern nochmal ein bisschen glücklich sein: mit „Onkel Jürgen“.