Zeitgenössischer Zirkus: Ein neues Theatergenre?

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen hatten 2025 sechs Produktionen aus dem Genre Zeitgenössischer Zirkus im Programm. Andere Festivals wie das Kunstfest Weimar oder die Kunstfestspiele Herrenhausen ziehen nach. Auch Zirkusfestivals wie das Circus Dance Festival in Köln boomen. Aber ist Zeitgenössischer Zirkus wirklich ein Theatergenre? Eine Recherche in Recklinghausen und Köln.

Am Fuße des grünen Festspielhügels in Recklinghausen steht ein kleines Kuppelzelt, das die Künstler selbst erdacht und gebaut haben. 94 Zuschauende finden hier Platz, die Spielfläche ist ein Steg in der Mitte. „Symbiosis“, das erste Duo-Programm von Jongleur Kolja Huneck und Schleuderbrett-Artist Luuk Brantjes, beginnt langsam. Brantjes beobachtet lange von der Kuppel des Zelts, wie Huneck Vinylschallplatten mit einem Spielzeugauto – mittels charmanter Theatertricks – Musik entlockt und mit ihnen jongliert. Die zwei Künstler begegnen sich kaum im Spiel. Huneck agiert in sich versunken, Brantjes turnt überraschend langsam am Schleuderbrett. Trotzdem entsteht ein Gegensatz zwischen Beobachter und Gestalter, zwischen Betrachter und Macher, aus einem ganz eigenen Rhythmus, der fesselt.

Auch Julian Vogel in „Ceramic Circus“ beim Circus Dance Festival in Köln startet langsam. Er baut einen Versuch auf, installiert ein Pendel, einen großen Ball an einem Drahtseil. Dann trommelt er sehr lange. Irgendwann versetzt der Luftzug das Pendel in Schwingungen. Dann versucht Vogel vergeblich, Fahrrad und Rollschuh zu fahren. Das Pendel stört mit seiner Regelmäßigkeit, seinem Tempo und Rhythmus die Kreise des Menschen, der zum Gejagten wird. Schließlich versucht Vogel, im Raum verteilt, sechs Porzellanteller auf Jonglierstangen zu installieren, immer wieder, schließlich mit Hilfsmotoren, die er auch noch verkabeln muss. Er verheddert sich mehrmals oder muss plötzlich die Richtung wechseln. So entsteht ein Live-Slapstick ohne Skript, der wirklich komisch ist. Als die Teller endlich ausbalanciert sind, ruht er aus und muss zusehen, wie seine Jonglage-Installation durch den Luftzug des Pendels zerstört wird.

Tempo und Rhythmus sind offenbar ständige Themen des Zeitgenössischen Zirkus, besonders die Langsamkeit. Und eben der Rhythmus, der regelmäßige Pulsschlag des Individuums. Aber es kann auch um Haltung gehen: In „Delusional – I killed a Man“ spiegelt die brasilianische Artistin Diana Salles bei den Ruhrfestspielen ihre eigene Situation: Eine Trans-Frau, die Schwierigkeiten hat, sich in Frauenrollen zu fügen. Das wird zu einer sehr lebendigen Choreografie mit Tanz, Techno-Elementen und einem großen Solo am Vertikaltuch, mit gesprochenen Worten („I never really killed a man“) am Schluss, um die Authentizität aufzubrechen und zu verstärken.

Zwischen Genregrenzen: Theater oder nicht?

Ist das wirklich Theater? Ja und nein. Eine Erzählung wird auf der Bühne gezeigt, aber ohne jedes Theaterspiel, ohne Figuren, Rollen, also ohne jedes „als ob“ – und fast ohne Sprache. Die Beziehung zwischen Raum, bespieltem Material und den Körpern der Mitspielenden tritt in den Mittelpunkt, gesteuert und unterstützt von Kostümen, Licht und Musik, die oft sehr einfach gehalten sind.

Alle diese drei Produktionen sind verständlich und begeistern ihr Publikum, das weniger intellektuell wirkt als ein „normales“ Theater-Publikum. Alle drei haben einen frischen, authentischen Charme, eine große, direkte Einfachheit und persönliche, fast allgemeinmenschliche Themen und Haltungen. Trotzdem sind sie hochpolitisch. Für Theater ist der Zeitgenössische Zirkus nicht einfach zu programmieren (abgesehen vom Chamäleon Theater in Berlin, das nichts anderes macht): Es braucht intime und besonders hohe Räume, weil die Artisten gerne in der Vertikalen arbeiten. Vielleicht ist es letztlich kein Theater, aber ein Vergnügen ist es in jedem Fall: auf hohem professionellem Niveau, in Verwandtschaft zum Tanz auf der einen und Objekttheater auf der anderen Seite.

Artist und Pendel: Julian Vogel am Anfang von "Ceramic Circus" Foto: Franzi Schardt

Artist und Pendel: Julian Vogel am Anfang von „Ceramic Circus“. Foto: Franzi Schardt