Aufführungsfoto von „Die Liebe auf Erden“ am Theater Altenburg. Ein Schauspieler trägt ein weißes Top und weiße Federn um den Hals. In der rechten Hand hält er ein Mikrofon. Im Hintergrund links Pflanzen und rechts ein Kostüm mit weißen Federn.

Zwei Städte, ein Theater

Generalintendant Kay Kuntze und Schauspieldirektor Manuel Kressin über die Herausforderung, Spielpläne, Logistik und unterschiedliche Kulturen am Theater Altenburg Gera zu managen.

Natürlich wollen wir die Verhältnisse radikal verändern, aber nicht durch Waffeneinsatz!“ Die Gewaltfrage spaltet in Gera die Gemüter – hier im fiktiven Theateraufstand. Dort, wo montags tatsächlich Neonazis an diesem Theater im Osten Thüringens vorbeimarschieren und einen Regierungsumsturz fordern, probt das Publikum die Beteiligung. Nach jeder Episode der Sci-Fi-Dystopie „√My“ diskutieren die Zuschauerinnen und Zuschauer in Gruppen als Regierungstreue, Reformer oder Revolutionäre die Strategie für die Fortsetzung, die das Regieteam dann umsetzt.

Mit diesem Einstieg ist auch dieser Text im Dilemma verfangen, von einem Theater zu berichten, das in zwei Städten zu Hause ist – und unfairerweise mit einer anzufangen. „Hallo, schön, dass Sie da sind.“ Mit Handschlag begrüßen in der Altenburger Dependance die Figuren der Uraufführung „Die Liebe auf Erden“ die Eintretenden, die zuvor schon Sekt ausgeschenkt bekommen hatten. Dann können sie sich frei im Raum bewegen und diesen erschließen. Im leeren schwarzen Gehäuse der Hinterbühne hängt ein bunt-barockes Gebilde von der Decke. Es ist ein Baum, eine Art Gewächs aus Pflanzen und Früchten, Tüchern, Karaffen und Gedecken. „Liebe“ kreiselt in Leuchtschrift durchs Bühnenrund.

Aufführungsfoto von „√My – Episode II“ am Theater Gera. Eine Frau und ein Mann in weißen Ganzkörperschutzanzügen untersuchen den Inhalt einer schwarzen Plastiktüte auf einem Edelstahltisch. Sie hält in einer Hand ein Handy und in der anderen eine Schüssel. Er hält blutverschmierte Gegenstände in den Händen.

„√My – Episode II“ am Theater Gera mit Ines Buchmann (Wohltäterin) und Valentino Fortuzzi (F-255). Foto: Ronny Ristok

Auch in Altenburg wird das Publikum also einbezogen, der Kontakt gesucht: „Die Liebe auf Erden“ (Text: Anja Hilling, Regie: Oliver Endreß) lockt ins Offene eines inszenierten Tischgesprächs. Das Publikum lässt sich bei der gut besuchten dritten Vorstellung jedenfalls darauf ein. Diese Produktion und „√My“ (Regie: Manuel Kressin) sind zwei besondere Zugriffe des Doppeltheaters Altenburg Gera. Das sucht auch bei konventionelleren Inszenierungen nach dem Besonderen, erstellte beispielsweise für den Kinderbuchklassiker „Der kleine Angsthase“ eine eigene, famose Puppentheaterfassung.

Fusion und Kooperation

Vierzig Kilometer liegen die Thüringer Städte Altenburg (31000 Einwohner) und Gera (95000) voneinander entfernt. Das Fünfspartenhaus Theater Altenburg Gera GmbH wird seit 2011 von Kay Kuntze geleitet; es entstand 1995 aus der Fusion des Landestheaters Altenburg mit den Bühnen der Stadt Gera. Damit wurden zwei traditionsreiche Theater vereint, die jeweils mit imposanten Gebäuden aufwarten.

Das Theater Gera in der Totalen fotografiert.

Theater Gera. Foto: Ronny Ristok

Das Große Haus in Gera weist eine architektonisch markante Mischform aus Neorenaissance und Jugendstil auf. Daran schließt sich seit zwanzig Jahren ein Zweckbau aus Glas an, der als Studiobühne für kleine Formate dient. Eine solche hat auch die Dependance in Altenburg. Hier entpuppt sich das Große Haus, als herzogliches Hoftheater 1871 eingeweiht, als Juwel. Herrschaftliche Elemente zeigen sich auch im Innern: Es gibt drei Ränge mit Logen und ein Erfrischungsfoyer, das wie ein Spiegelkabinett aussieht. Da gehört das Dinieren in der Pause für viele Besuchende offensichtlich dazu. Derzeit wird das Große Haus renoviert, finden Vorstellungen vor allem in einem Theaterzelt statt. In einigen Jahren soll das Theater wieder vollumfänglich zugänglich sein.

„Zwei Häuser unter ein Theater zu bringen ist eine Herausforderung“, erklärt Schauspieldirektor Manuel Kressin im Gespräch. Zumal historisch bedingt zwei unterschiedliche „Kulturkreise“ in den Städten existierten, es auch zwei Theater-Freundeskreise gibt. „Ein Stück läuft dort super und hier nicht. Oder andersherum. Wir werden immer wieder überrascht.“ Der logistische Aufwand ist hoch, beide Häuser – die Belegschaft umfasst 300 Menschen – zu bespielen. Das geschieht im Wechsel. Eine Spielzeit wird eine Inszenierung hier gezeigt, in der folgenden Spielzeit am anderen Haus.

Das Theater Altenburg in der Totalen fotografiert. Im Vordergrund des Gebäudes ein Vorplatz und eine Straße.

Theater Altenburg. Foto: Ronny Ristok

Dosierte Brisanz

„Programmatisch fahren wir zweigleisig“, sagt Kressin. „Wir wollen nicht zum Provinztheater verkommen.“ Aber natürlich bedeutet Theater auch Unterhaltung. Mit dem spartenübergreifenden Monty-Python-Musical „Spamalot“ haben man zum Beispiel zeigen können, dass eine immer wieder durch die Öffentlichkeit geisternde Spartenschließung kontraproduktiv wäre. Das jenseits des Mitmachanspruchs inhaltlich und spielerisch brave „√My“ schafft durch Seriencharakter Bindung. Experimenteller geht es zu, wenn eine Produktion versucht, die Grundformen des Bauhauses in Bewegungskunst zu versetzen. Oder man sich mit brisanteren gesellschaftlichen Themen auseinandersetzt. Wie etwa „Liebe macht frei“, das die historische und aktuelle Unterdrückung von Homosexualität zeigt. Das müsse man dosieren, sagt Kressin. „So etwas können wir nicht immer machen. Da muss man dann andere Stoffe, etwa ‚Die Mausefalle‘, dagegensetzen.“

Im Ins-Gespräch-Kommen sieht auch Generalintendant Kay Kuntze eine Schwerpunktarbeit, gerade in Zeiten wie diesen. Die extrem rechten Demos in Theaternähe müsse man aushalten. Mit Transparenten am Haus positioniert sich das Theater: „Der Riss, der sich zunehmend durch unsere Gesellschaft bildet, zieht sich durch die Stadtgesellschaften.“ Dem können Theater „entgegenwirken, indem sie gemeinsame Erlebnisse ermöglichen“. Allerdings: „Man kann von Theatern sicher nicht erwarten, dass sie reparieren, was in Jahrzehnten in Schul-, Sozial-, Integrations- oder Verkehrspolitik schiefgelaufen ist. Aber sie können Hinweisgeber auf Themenfelder sein, die die Gesellschaft zu beackern hat.“

Porträt von Kay Kuntze, Intendant des Theater Altenburg Gera.

Kay Kuntze, Intendant des Theater Altenburg Gera. Foto: Ronny Ristok

Das muss sich auch programmatisch spiegeln, von einem „ideologisch gefärbten Spielplanansatz“ hält Kuntze nichts. „Für uns ist es wichtig, diese Menschen im Diskurs zu halten und sie mit unseren Programmen aus ihren eigenen Echokammern hervorzulocken.“

Umso erstaunlicher, dass sich das Theater auch an Sto•ffe wie die Farce „Hitlers Ziege und die Hämorrhoiden des Königs“ wagt. Dabei gelingt durch genau herausgearbeitete Figuren, gutes Timing und überschießende Spiellust fetziges Schauspieler:innentheater. Internationale Kooperationen brachen mit Corona weg, sie sollen langsam wieder anlaufen. Wie das ausschaut, zeigte 2019 die Koproduktion mit dem rumänischen Teatrul National Craiova „Clowns: Eine physische Grenzerfahrung“. Irgendwo zwischen Performance und Tanz angesiedelt, wurden Elemente aus Pantomime, Artistik und physischem Theater zusammengeführt.

Lokale Identifikation mit dem Ensemble

Durch regelmäßige Showformate, wenn etwa Kunst auf Kulinarik trifft, kann das Publikum das Ensemble unmittelbar kennenlernen. Diese Bindung hält Manuel Kressin für wertvoll, der vor seiner Zeit als Direktor am Haus als Darsteller arbeitete. Es herrsche zwar keine Residenzpflicht, aber er findet es wichtig, dass die meisten Schauspielenden vor Ort leben. „Das sind Identifikationsfiguren.“ Da bekäme ein Schauspieler schon mal zu hören: „Ich habe dich im Weihnachtsmärchen gesehen, als ich sechs war.“ So ein kleineres Theater habe auch Vorzüge: „Jedes Mitglied hat die Chance, mindesten einmal pro Spielzeit eine große Rolle zu spielen.“ Diese Bindung schätzt das Publikum: Viele kommen mehrmals in eine Produktion, um ihre Schauspieler in der Lieblingsrolle zu sehen.

Porträt von Manuel Kressin, Schauspieldirektor am Theater Altenburg Gera

Manuel Kressin, Schauspieldirektor am Theater Altenburg Gera. Foto: Ronny Ristok

AfD-Wahlerfolge und das insgesamt rechte Klima im Osten seien immer ein Thema, sagt Kressin; gerade bei Bewerbungsgesprächen, in denen er häufig Zurückhaltung erlebt. Aber es gibt auch andere Reaktionen. „Da geht es ans Eingemachte“, habe eine Kollegin gemeint. Hier sei Theater relevant, könne etwas bewirken. „Hier weiß ich, warum ich Theater machen wollte“, so die Schauspielerin. Man spüre eine Dringlichkeit. Theater, das ist die Überzeugung in Gera wie Altenburg, kann Menschen zusammenbringen. In den Worten Kay Kuntzes: „Diese verbindenden Erfahrungen schaffen einen kleinsten, aber zuversichtlich stimmenden gemeinsamen Nenner, der zeigen kann, dass wir uns als Gesellschaft auch bei unterschiedlichsten Standpunkten im Großen und Ganzen immer noch aushalten können.“

Zurück zum schwarzen Gehäuse der Altenburger Hinterbühne: Dort merkt man diesen Bezug zum Publikum. Immer wieder suchen die Spielenden in „Die Liebe auf Erden“ den Blickkontakt. Da soll ein Zuschauer ein paar lyrische Zeilen vorlesen, werden Blumen verschenkt. Durch Figurenfragmente scheinen soziale Situationen auf, werden Grundstimmungen, Schicksale wie Armut und Reflexionen übers Nichts sichtbar. Gutes Spiel und Raumnutzung stiften in der interessanten Konstellation auch Gemeinschaft. Das ist den Geraern auch vor ihrem Theater gelungen: Dort protestiert seit Kurzem ein Bürgerbündnis gegen die regelmäßigen Nazi-Aufläufe.

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr.6/2024.