Christoph Bornmüller in Chritian Weises „Tell“-Inszenierung

Love Wanted: Schillertage Mannheim

Die 22. Schillertage in Mannheim zeigten gleich zweimal „Wilhelm Tell“  – Christian Weises Aktualisierung wirkt oberflächlich, die des ukrainischen Regisseurs Stas Zhyrkov so packend wie schwermütig. Unsere Bilanz des Festivals sieht Entgrenzung und die Suche nach Freiheit als verbindende Motive.

Schiller liegt derzeit in der Luft. Man kommt an ihm nicht vorbei, wenn man sich die globale Rückkehr autoritärer und rechtsnationaler Strukturen vergegenwärtigt. Dass der Deutschen entschiedenster Freiheitsdichter daher Hochkonjunktur hat, konnte man nun an den 22. Schillertagen in Mannheim deutlich wahrnehmen. Und dies mit dem Klassiker für emanzipatorisches Potenzial schlechthin, nämlich „Wilhelm Tell“, der in gleich zwei Interpretationen zu sehen war. Die erste wäre zu empfehlen, wenn wir ohnehin schon in der besten aller Welten, sorglos vor dem Eingang des Schlaraffenlandes leben würden. Inmitten des für die Stadt am Neckar so bekannten Luisenparks fand er unter sommerlichen Temperaturen auf der Seebühne statt. Um genau diesem Ort Rechnung zu tragen, greift der Regisseur Christian Weise das bekannteste Motiv der Grünanlage auf – die zahlreichen mit geöffnetem Mund bettelnden Karpfen entlang der kleinen Flussschiffe – und lässt seine Schauspieler:innen mit überdimensionalen Fischköpfen auftreten. Sie waten durch das Wasser, blubbern oder bieten allerlei Musical-Einlagen. Durch einen stets die Handlung auf der Bühne erklärenden fiktiven Dramaturgen ist auch ein wenig Brecht-Theater dabei, damit wir schön alle wissen, worum es geht und warum wir das zu sehende nicht für bare Münze nehmen sollen. Geht es hier also um Schwarmintelligenz oder was soll das? Tatsächlich erschließt sich einem die Sinnhaftigkeit der Wassertiermetaphorik für das Schillersche Drama auch nicht nach längerem Nachdenken. Und für eine Satire, die man anscheinend sein will, ist die Chose leider mäßig lustig.

Tränenreicher Tell

Gegensätzlicher dazu könnte die zweite Version des Festivals, „Tell. Eine ukrainische Geschichte“, kaum ausfallen. Nachdem man darin zu Beginn noch den Vorhang mit dem Alpenpanorama wegreißt und somit die zumindest literarische Geschichte um den Schweizer Freiheitskämpfer hinter sich lässt, wirft uns der Regisseur Stas Zhyrkov direkt in das von Putin angegriffene Land im Osten Europas. Sicherlich laufen im Hintergrund einige Handlungselemente des ursprünglichen Dramas assoziativ mit, wie etwa der Rütlischwur der drei Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden gegen die Usurpation der Habsburger oder natürlich die Kampfesgeschichte Tells, der sich und sein Kind mithilfe des berühmten Apfelschusses rettet und den Herrscher Gessler tötet. Der eigentliche Fokus gilt jedoch dem Leiden des ukrainischen Volkes. Vor der Kulisse einer Ottonormal-Wohnstube geben vier direkt dem Publikum zugewandte Darsteller:innen einschneidende Verlust- und Widerstandserzählungen wider. Während sich der eine noch an die Gräuel der Nazis erinnert, erfahren andere vom Tod des eigenen Sohns an der aktuellen Kriegsfront. Historie, so die Botschaft, wiederholt sich – auf beklemmende Weise! Zwischen elegischen Gesängen in der Dunkelheit und berührenden Monologen aus der Wirklichkeit kommen nicht nur den Schauspieler:innen selbst die Tränen, die offensichtlich teils aus eigener Erfahrungen berichten, auch im Publikum vernimmt man mehrfaches Schluchzen.

Vitalina Bibliv in „Tell. Eine ukrainische Geschichte“, Foto: Maximilian Borchardt

Zweifelsohne stellt diese Premiere die imposanteste Inszenierung des Jahrgangs dar. Fehlen allerdings dem Seebühnen-Tell Relevanz und Wahrhaftigkeit, bietet die ukrainische Realisierung fast schon zu viel davon. Vielleicht wären in der stilistischen Ausarbeitung mehr Mut zu Zwischentönen zulasten von Extremen gut gewesen. Aber sei’s drum. Die Schillertage wollten 2023 aufrütteln, strebten die mithin plakative Zuspitzung an. So geht es in den unterschiedlichen Performances und Austauschforen ebenso um die ganz großen Gefühle und Nicht-Gefühle unserer Zeit. In einer Lesung fragt die Autorin Şeyda Kurt, ob nicht der Hass auch eine Triebfeder für die Veränderung der Welt sein kann, derweil lotet das SWR2-Forum aus, ob die Politik nicht schlichtweg von mehr Liebe getragen sein müsse.

Love wanted, könnte daher der alternative Titel des Aufführungsreigens lauten. Die Devise haben sich übrigens auch die Studierenden der Akademie für Darstellende Kunst aus Ludwigsburg in ihrer Performance „Nomadische Recherche“ zueigen gemacht. Hierbei führen sie uns quer durch Mannheim, um uns an verschiedenen Stationen zu zeigen, wo das stärkste aller Gefühle fehlt! Eine Frau schreibt auf eine gigantische Fahne die Namen der weiblichen Opfer der Proteste im Iran, eine Gruppe ringt mit Gesten der Angst und des Zorns, während im Hintergrund ironisch Beethovens Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ läuft. Und zuletzt treffen wir noch auf eine kleinere Formation, die sich in einem ehemaligen Kiosk mit der Suche nach dem eigenen Körper, jenseits gesellschaftlicher Normen, beschäftigt.

„Nomadische Recherche“ im Rahmen der Schillertage von und mit Studierenden der Ludwigsburger Akademie für Darstellende Kunst, Foto: Maximilian Borchardt

Ihr Werk wie auch die anderen Inszenierungen stehen im Zeichen der Entgrenzung. Nach Corona, und inmitten der Renaissance von Totalitarismus und Gewalt. Ästhetisch hätten man sich von den diesjährigen Tagen zu Ehren Schillers hier und da mehr erwartet. Erkennbar wurde aber dessen heute mehr denn je nötige Botschaft: Macht euch frei!