Brecht-Parade in Augsburg

Das neue Augsburger Brechtfestival

Das Augsburger Brechtfestival erfindet sich neu und zieht in die Peripherie. Eine Zwischenbilanz

Okay. Dieser Ort ist nun wirklich über jeden Verdacht erhaben, ein elitärer Kunsttempel zu sein. 1. Vor dem Eingang harrt eine ehemalige Waschmaschine, deren Besitzverhältnisse ungeklärt sind, neben einem Container voller Schrott. 2. In die kleine Seitenstraße mitten in einem Wohnviertel verirrt sich sicher keinerlei Prominenz. 3. Das Publikum wirft sich nicht etwa in feine Roben, im Gegenteil: Es muss sich ausziehen. Die Performance findet in der Augsburger Saunawelt statt. Ein ungewohntes Setting für einen Theaterabend. Eines, das Bert Brecht vielleicht gefallen hätte, hatte er doch durchaus einen Hang zu finnischen Saunen und nackten Frauen.

Was das Kollektiv Bluespots Productions hier also im Rahmen des diesjährigen Augsburger Brechtfestivals wagt, ist trotz seiner Kürze von gerade mal 15 Minuten (länger würde das Publikum bei 90 Grad kaum durchhalten) ein in vielerlei Hinsicht spannendes Experiment. Denn in „Saunah. Ein Drama in drei Aufgüssen“ sitzen nicht die immer gleichen Festivalbesucher:innen, sondern auch all die, die im Grunde nur ein bisschen schwitzen wollten und zufällig nebenbei in den Genuss von ein bisschen Kultur kommen. So niederschwellig war Theater wohl noch nie. Der Schauspieler Guido Drell betritt den kleinen Raum voller Nackter und freut sich erstmal über die Umkehr der Verhältnisse. Normal ist das Publikum bekleidet, während er sich als Schauspieler schon mal psychisch und physisch entblößt. Dann wird kollektiv geschwitzt. Drei Aufgüsse lang werden zunächst ideologische Verspannungen (mit dem Aroma finnischer Birke), Macho-Allüren (mit Moschus-Vanille) und zuletzt das übergroße Ego (mit Honig) ausgeschwitzt, um fortan über den Meister Brecht hinauszuwachsen und sich zu neuen Idealen zu erheben. Was für ein Finale dieses Tages!

Wer war dieser Brecht?

Angefangen hat er am Vormittag mit einem Gastspiel des Theaters Bremen:„Leer/Stand – Der Brotladen oder Wem gehört der Stadtraum?“ von Antigone Akgün frei nach Bertolt Brecht. Die Idee, eine Performance in einer leerstehenden Sparkassen-Filiale zu veranstalten, könnte durchaus von Brecht selbst stammen. Der Tresorraum steht offen, ein kleines Sparschwein auf dem Boden und eine falsche Perlenkette in einem der Schließfächer lassen schmunzeln: War da nicht was? Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Diese Performance ist episches Theater auf die Spitze getrieben, für romantisches Glotzen fehlt wirklich jeder Anlass. Was Antigone Akgün hier inszeniert, ist eine ziemlich krude Brecht-Collage, eine wilde und etwas wirre Gemengelage aus Stück, Making-Of, Ausstellung und Interpretation, weniger Brecht-Aufführung als Brecht-Anwendung. Auch wenn die beiden Spieler sich mächtig ins Zeug legen, Brecht rappen, sampeln und turnen, bleibt diese Performance doch leider ziemlich umständlich, hermetisch und insidermäßig, versucht eher angestrengt, Verbindungslinien ins Hier und Jetzt zu ziehen. Die anwesende Schulklasse jedenfalls blieb recht ratlos zurück.

Die Fragen aber, die einem danach im Kopf herumschwirrten, fassen ganz gut zusammen, was die diesjährige Ausgabe des Brechtfestivals in Augsburg umtreibt: Wer oder was ist eigentlich Brecht? Was gibt er uns? Was würde er heute machen? Und: „Ist die Konfusität der Wirklichkeit überhaupt adäquat darstellbar?“ – Am 10. Februar, Bertolt Brechts 125. Geburtstag, startete das Festival mit einer denkwürdigen Parade über den Lech. Beteiligte Künstler:innen, aber auch örtliche Akteure wie der Motorradclub „MC Kuhle Wampe“ zogen von der Innenstadt in die Peripherie, über die Brücke nach Lechhausen. Denn eben dort, in der Arbeitervorstadt, dem bevölkerungsreichsten Viertel der Stadt, findet das Spektakel statt. Kurator Julian Warner, der in diesem Jahr die Leitung übernommen hat, krempelt das Festival gehörig um.

Als ich am Dienstagmittag im „Trachtenheim Saalbau Krone“, der Festivalzentrale, vorbeischaue, sitzt Warner am Laptop, genießt die Ruhe, bevor es richtig los geht an diesem Tag. Wir trinken spontan einen Tee, er versorgt mich mit afrikanischer Bohnensuppe und nimmt mich im Taxi mit zum nächsten Schauplatz: der Alevitischen Gemeinde. Auf der Fahrt erzählt er von seinen Plänen. Er will ein Festival, das selbst produziert. Um das möglich zu machen, hat er Studierende aus Frankfurt am Main, Karlsruhe, München und Wien eingeladen, die das Festival dieses Jahr in einem Campus-Programm begleiten und nächstes Jahr selbst aktiv mitgestalten sollen. Im Aufenthaltsraum der Alevitischen Gemeinde beginnen die Student:innen also ihre Annäherung an die Methoden Brechts, während nebenan im großen Saal schon der Wrestling-Ring für die große Show am Wochenende aufgebaut wird. Hirn und Muskeln, Kampf und Spektakel, körperlich und direkt. Alles durchaus im Sinne Brechts.

In die Peripherie

Nächstes Jahr soll es übrigens nach Augsburg-Oberhausen gehen, das Konzept der Erschließung kulturell eher vergessener Viertel wird weiter verfolgt. Es ist ein spannendes Vorhaben: Augsburg-Lechhausen ist tatsächlich nicht eben ein Ort, an dem man ein Theaterfestival erwarten würde. Kneipen, schlichte Ein- und Mehrfamilienhäuser, kleine Straßen, einiges an Leerstand. Hie und da wird Altes abgerissen, neue Wohnhäuser entstehen. Gentrifizierung? Vielleicht. Ein paar Straßen weiter aber wirkt selbst das Bestattungsunternehmen, als gehe ihm die Kundschaft aus. Hierher bringt Warner nun das Theater, oder vielmehr: eine vielfältige Auseinandersetzung mit dieser Stadt und ihrem Brecht. Die Menschen werden aufmerksam auf das, was da plötzlich in ihrer Nachbarschaft passiert, fragen nach, schauen vorbei.

Eine Stadt arbeitet sich an ihrem Autor ab, reibt sich an ihm. Gemeinsam mit Augsburger:innen hat sich das Kollektiv God’s Entertainment in den vergangenen Wochen ein ganz eigenes Bild des Meisters gemacht, sein Konterfei in einem gemeinsam geknüpften Teppich verewigt. Er wellt sich ein wenig, nicht jede und jeder hat gleich fest geknotet. Im Zuge der Parade wurde er wie eine gigantische Fahne durch die Stadt getragen. Nun hängt er in der Projektschmiede in der Neuburger Straße: Auf Rollbrettern kann man auf dem Rücken liegend unter das hängende Kunstwerk rollen wie unter ein kaputtes Auto, schauen, was sich „Unter dem Teppich“ versteckt (so der Titel der Installation). Über den Boden gleitend kommt man schnell ins Gespräch, überhaupt ist das ganze Festival entspannt, kommunikativ und bodenständig.

Dorothea Schröder ist nächtelang durch die Kneipen von Lechhausen gezogen, hat mit Wirten gesprochen und versucht, den Geist oder vielmehr die Geister dieser Kneipen zu ergründen. Ihre gesammelten O-Töne hat sie in ein Audiofeature gepackt, das man sich via QR-Code in der Stadtbibliothek anhören kann und das Lust macht, ihren Wegen zu folgen. Nebenbei taucht man ganz selbstverständlich ein in den Alltag der Stadt, lauscht den Geschichten, blickt auf die Straße, umringt von Schulkindern, die in der Bibliothek ihre Hausaufgaben machen und heiße Schokolade aus dem Automaten trinken. Da draußen war er mit seiner Clique, die er „Blase“ nannte, unterwegs, der Brecht. Wie es damals wohl aussah?

125 Jahre ist er alt, der Bertolt, viele seiner Fragen sind bis heute aktuell. Traurig viele. Die nach einer Verteilungsgerechtigkeit ist nur eine. Wenn jeden Tag von Putins Krieg in der Ukraine zu lesen ist, würde Bertolt vielleicht fragen: Ist das wirklich allein Putins Krieg? Entlastet diese Zuschreibung nicht all die anderen von ihrer (Mit-)Verantwortung? Die Installation „The History of Brecht’s People“ im Brechthaus stellt Fragen wie diese, denkt Brechts Ansätze weiter ins Heute.

Dass er durchaus auch Fehler hatte, macht nicht nur die Sauna-Performance deutlich. Auch die Student:innen der Theaterakademie August Everding und der UdK Berlin, die gemeinsam das Projekt „Bad New Things“ gestaltet haben, rütteln in ihren fünf Szenen „zu/über/nach Brecht“ durchaus an seinem Thron. „Ich denke, Brecht war vielleicht nicht so großartig wie man sagt“, heißt es da einmal. Und ja: Nicht alles ist zeitgemäß, nicht sein übergroßes Ego und auch nicht sein Verhältnis zu all seinen Frauen, deren Talent er gerne ausschöpfte, ohne ihre Anteile an seinen Werken zu erwähnen. Ob er wirklich das Zeug hat zum Theatergott der kleinen Leute? Wer weiß. Geht man so mit seinem Erbe um wie Julian Warner, könnte das durchaus sein. Der Autor als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Wieder kommt einem dieser Satz aus dem „Leer/Stand“ in den Sinn: „Ich habe das Theater immer ein bisschen gehasst, weil es das Gegenteil von Leben ist.“ Vielleicht ist nicht jedes Element dieses Festivals gleich stark, vielleicht das eine oder andere sogar ein Flop. Aber: Dieses Theater ist definitiv nicht das Gegenteil von Leben. Es wagt sich ziemlich tief hinein.