Szene aus „As Far As Impossible”

Auftakt der Ruhrfestspiele

Zum Start der Ruhrfestspiele Recklinghausen ging es um die Überwindung von Angst: Eindrücke vom ersten Tag mit „As Far As Impossible“ von Tiago Rodrigues und „The Pulse” der australischen Gruppe Gravity and other Myths.

Tatsächlich trugen die Ruhrfestspiele vor zwanzig Jahren das Motto: „No Fear“. Frank Castorf, der das Festival nur für ein Jahr leitete, Raum-Erfinder Bert Neumann (der frech ein Bretterbudendorf vor das Festspielhaus baute) und das dramaturgische Team um Matthias Pees, heute Chef der „Berliner Festspiele“, hatten das in die Jahre gekommene Festival runderneuern wollen. Darum haben sie sich selber und das Publikum dazu verpflichtet, gemeinsam „keine Angst“ zu haben.

Damals ging es eher um die Sorge vor dem „Verlust“ der vertrauten Profile beim ältesten Festival westdeutscher Nachkriegszeit. Wenn die aktuelle, am Wochenende eröffnete 78. Ausgabe dieses Treffens der Künste im Motto neben dem „Vergnügen“ auch den „Verlust“ beschwört, dann ist auch Angst sehr gegenwärtig. Vor allem die Angst vor der Angst.

„As Far As Impossible“ von Tiago Rodrigues

Dazu passt die Produktion, die der portugiesische Theatermacher Tiago Rodrigues nach Recklinghausen mitgebracht hat. Er leitet das Festival in Avignon, das fast so alt ist wie die Ruhrfestspiele. Mit einem einfachen dramaturgischen Trick hat er ein Gemisch aus Dokumentation und dramatischer Behauptung kreiert. Zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler spielen zwei Frauen und zwei Männer aus der weltumspannenden Gemeinschaft humanitärer Hilfe, die ihrerseits den Künstlerinnen und Künstler (stellvertretend für uns, das Publikum) von den Katastrophen, Verzweiflungen und seltenen Glücksmomenten der eigenen Arbeit und des eigenen Engagements berichten; in Vorbereitung für ein Stück oder einen dokumentarischen Film.

Und noch einen Trick hat Rodrigues parat. „As Far As Impossible“, der Titel der Produktion, wendet das vertraute Wort „soweit wie möglich“ (As far as possible), das ja für die Grenzen des Menschenmöglichen steht, ins Gegenteil. Und in der Tat gehen die Helferinnen und Helfer darüber hinaus – also „As Far As Impossible“. In zwei Stunden Theatertext taucht dieses „impossible“, dieses „unmöglich“, immer dann auf, wenn von irgendeiner kriegerischen Auseinandersetzung die Rede ist. Dann gehen Helferinnen und Helfer nach „Unmöglich“. Und wenn sie zurück nach Hause kommen, beginnen sie manchmal, „unmöglich“ zu sprechen, „unmöglich“ zu leben.

As Far As Impossible Foto: Magali Dougados

„As Far As Impossible”. Foto: Magali Dougados

Voller Skrupel sind die vier Zeugen weltweiten Elends von Beginn an. Was lässt sich überhaupt erzählen, ohne damit immer nur die Gier der Kunst wie des Publikums nach den zwar schaurigen, aber allemal spektakulären Sensationen aus Horror und Leid zu befriedigen? Und die vier bleiben skeptisch – und reflektieren diese Sorge immer wieder neu. Genau wie die Angst vor der Angst, die sie selbstverständlich auch selber umtreibt. Wer ist schon cool und stabil genug, dass er oder sie speziell Kindern beim Sterben beistehen kann, ohne dabei selber Schaden zu nehmen … traumatisiert sind sie alle.

Wie sie mit diesen Traumata umzugehen lernen – auch das ist Teil der Geschichten. Drei Phasen der Wahrheit über sich selbst zitiert eine der Frauen: 1. Ich will die Welt retten; 2. Ich kann die Welt nicht retten; 3. Die Welt ist nicht zu retten. Hinter die eigentlich untheatralischen Erzählungen des Quartetts setzt das Bühnenbild-Team den Stoff für ein haushohes Wüsten-Zelt; wo der zu Beginn nicht flach am Boden liegt, verdeckt er den Schlagzeuger, der zwei Stunden voller Geschichten effektsicher begleitet und erst ganz zum Schluss all die kreischend-grellen und tödlich-dumpfen Sounds vom fallenden Bomben, zusammenkrachenden Häusern und sterbenden Menschen im ohrenbetäubenden Solo gipfeln lässt.

Da hat das Quartett mit Hilfe der Seilzüge altvertrauter Theater-Technik das Zelt komplett in die Höhe gezogen. Womöglich mag mancher und manche wirklich wie betäubt von unendlich viel Leid das kleine Haus der Ruhrfestspiele verlassen haben, hinaus ins Dunkel und in den Regen. Viel mehr Ungemütlichkeit als das, Dunkel und Regen, kennen wir ja nicht. Die Angst vor der Angst aber kennen wir schon.

Spektakuläre Körper-Show: „The Pulse”

Der Tag in Recklinghausen hatte auch mit ihr begonnen – denn die zwei Dutzend Artistinnen und Artisten im australischen Ensemble Gravity and other Myths werden kaum die Ängste leugnen, mit denen sie in die spektakuläre Körper-Show „The Pulse“ hineingegangen sind (und vielleicht jedes Mal neu hineingehen). Sie bauen Pyramiden aus bis zu vier Etagen Mensch, sie werfen und fangen die Körper von Partnerinnen und Partner, lassen sie fliegen und weich landen – in den Armen der anderen. Sie imitieren Klänge, indem sie auf den anderen herum und über sie hinweg klettern, von Brustkorb zu Brustkorb; der eigene Körper wird für jeden und jede zu einer Art Instrument.

Spektakuläre Körper-Show: „The Pulse”

Spektakuläre Körper-Show: „The Pulse”. Foto: Carnival Cinema

Auch darum verbinden sie sich für die Show immer mit einem Chor, hier dem Frauenkonzertchor der Chor-Akademie am Dortmunder Konzerthaus, der die Stimm-Gebilde von Ekrem Eli Phoenix zum Leben erweckt. Das Gegenüber zwischen den Körper-Choreografien von Ensemble-Chef Darcy Grant und dem machtvollen Gesang weiblicher Masse wandelt sich mit der Zeit immer deutlicher zum Miteinander. Noch am Tag nach der Premiere in Deutschland, zur Festspiel-Eröffnung durch die Rede der Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky, hat das australische Ensemble das riesengroße Festspielhaus zweimal eindrucksvoll füllen können. Dass es sich bei der „Schwerkraft“ nur um einen „Mythos“ handeln könne (denn das meint der Gruppenname „Gravity and other Myths“), nimmt das Publikum mit nach Hause. Hoffentlich probieren die Kinder derlei Artistik nicht daheim im Wohnzimmer aus… ganz und gar ohne Angst vor der Angst.