
Schreiben im Doppelpack
Foto: Sarah Nemitz und Lutz Hübner © Tobias Kruse /Ostkreuz Text:Detlev Baur, am 1. Januar 2023
Das Ehepaar Sarah Nemitz und Lutz Hübner gehört zu den erfolgreichsten Bühnenautoren Deutschlands. In der Küche ihrer Berliner Wohnung sprachen die beiden über ihre ungewöhnliche Arbeitsweise.
Dieser Doppelpack ist eher Zufall: Die zwei Premieren des Autor:innenduos Lutz Hübner/Sarah Nemitz im Januar sind den Zeitverschiebungen im Anschluss an die Pandemie geschuldet. „Die fünf Leben der Irmgard Keun“ wird am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt, „Der Haken“ am Schauspiel Bonn. Beide Werke sind „von Lutz Hübner und Sarah Nemitz“. Frühere Stücke wie die Theaterparodie „Gretchen 89 ff.“ von 1997 oder das Jugendstück „Creeps“ (2000) verzeichneten hingegen noch Lutz Hübner als Autor, „Mitarbeit: Sarah Nemitz“.
Wir sitzen zu dritt bei Tee und Croissants in der Küche des Ehepaars in Berlin und reden über ihr kollaboratives Schreiben. Seit vielen Jahren verfassen die zwei ausgebildeten Schauspieler:innen gemeinsam Stücke, erst fürs Kinder- und Jugendtheater, nun vor allem für erwachsenes Publikum. Beide arbeiten grundsätzlich zusammen. Seit 12 Jahren werden sie offiziell als gleichwertige Autor:innen genannt.
Antworten im Dialog
Auf die Frage, ob die veränderte Benennung der Autorenschaft eine emanzipatorische Umetikettierung ist in Zeiten, wo Co-Leitungen in Theatern (oder Redaktionen) en vogue sind, antworten beide dialogisch:
Lutz Hübner: „Viele Leute dachten, Sarah habe das Stück abgetippt und Kommata gesetzt. Wir müssen es nennen, wie es ist: dass wir zusammen diese Stücke schreiben.“
Sarah Nemitz: „Es ist eine andere Benennung, aber auch eine Entwicklung. Ich habe immer an den Stücken mitgearbeitet, doch dann hat sich die Zusammenarbeit intensiviert. Und es war wie ein schrittweises Outen: Ich muss auch Verantwortung übernehmen. Ich kann nicht Lutz immer alleine rausschicken, sondern muss dazu stehen, dass ich das mitverantworte.“
Lutz Hübner: „Es war ein Prozess der Sichtbarkeit. Im Film hat keiner Probleme damit, dass Drehbücher von zwei Leuten geschrieben werden. Im Theater dominiert noch der Wunsch nach dem ‚Originalgenie‘. Wir wollten es benennen, dass wir zusammenarbeiten.“
Sarah Nemitz: „Dadurch hat sich die Zusammenarbeit noch einmal intensiviert.“
Lutz Hübner: „Wir haben uns eigentlich professionalisiert.“
Sarah Nemitz: „Auf jeden Fall versuchen wir, Privatleben und Schreiben voneinander zu trennen.“
Lutz Hübner: „Man hat ja in unserem Beruf ohnehin verschwimmende Grenzen zwischen Freizeit und Nichtfreizeit.“
Sarah Nemitz: „Diese Küche hier ist eigentlich kein Arbeitsort.“
Lutz Hübner: „Wenn wir über die Arbeit sprechen, gehen wir normalerweise ins Arbeitszimmer.“
Gesellschaftliche Probleme mit glaubwürdigen Figuren
In „Der Haken“ geht es zunächst um die Besichtigung einer Wohnung und um die Performance der Bewerber, aber zunehmend auch um den Vermieter beziehungsweise seinen Neffen, der sich in der Rolle des Maklers versucht. Das Stück ist ein typisches Hübner-Nemitz-Stück: Ein gesellschaftliches Problem – hier: Wohnungsnot – wird szenisch durchgespielt mit exemplarischen Figuren, die glaubwürdig und humorvoll gezeichnet sind, dennoch wohlkonstruiert um das Thema kreisen und somit einen Auszug der Gesellschaft darstellen. Genaue Recherche, dramaturgisches Handwerk und szenische Überraschungen machen diese Komödien aus, die bei Schauspieler:innen und Publikum gleichermaßen gut ankommen. Das Schreiben der Dialoge macht einen kürzeren Teil der etwa einjährigen Vorarbeiten für ein Stück aus, so berichten die beiden. Dabei überlappen sich die jeweils etwa ein halbes Jahr dauernde Recherchephase und die ebenso lange Schreibphase, sodass etwa zwei Stücke pro Jahr entstehen.
Lutz Hübner: „Wir einigen uns mit dem Theater, dann machen wir erste Notizen, was eher das Thema beschreibt als die Geschichte. Man versucht den Kontrapunkt zu finden. Die Recherche teilen wir uns mitunter auf oder machen sie gemeinsam. Im Fall von ‚Die fünf Leben der Irmgard Keun‘ haben wir die Herausgeberin der Werke getroffen und eine Diskussion im Brecht-Haus angehört, sind mit der Tochter in Kontakt gekommen und haben mit einer Freundin von Irmgard Keun gesprochen. Dann entsteht ein erster Pitch, indem wir uns gegenseitig die Geschichte erzählen.“
Sarah Nemitz: „Anschließend verschriftlichen wir das Storyboard. Wir befassen uns getrennt damit und verständigen uns.“
Lutz Hübner: „Während der Szenario-Arbeit entwickeln wir die Figurenprofile. Man bedient sich bei Freunden oder Bekannten, aber nur einzelne Charakterzüge, nie eins zu eins. Wenn die Figuren dreidimensional sind und das Szenario so oft durchgelaufen ist, dass man ein Gefühl dafür hat, wie die Geschichte läuft …“
Sarah Nemitz: „… dann kann man auch die Dialoge schreiben, weil man weiß, wie die Leute sprechen. Vorher weiß man das nicht.“
Lutz Hübner: „Einer schreibt, der andere liest, ändert und hin und her. Dialoge schreiben muss schnell gehen, man muss wissen, wie der Drive ist.“
Immer im Austausch
Die Dialoge schreiben sich also fast von selbst, jedenfalls erfolgt dieser Arbeitsschritt zunächst alleine, nachdem zuvor gemeinsam die Grundlage gelegt wurde, der Kosmos des Stückes und seiner Figuren entwickelt ist. Die Arbeit im eingespielten Team vergemeinschaftet also nicht alle Arbeitsprozesse, doch bleiben Nemitz und Hübner immer im Austausch. Außerdem, so betonen beide, umfasst die Teamarbeit auch die Regie und Dramaturgie mit dem jeweiligen Uraufführungstheater: „Wir haben auch bei jedem Stück einen Außenpartner. So ein externer Blick in der Entwicklungsarbeit diszipliniert.“
Regisseurin von „Die fünf Leben der Irmgard Keun“ ist Mina Salehpour, sie berichtet: „Die Art, wie Lutz und Sarah mit Regieteams kollaborieren, ist bemerkenswert. Uns verbindet auch eine Freundschaft. Und beide sind wahnsinnig professionell.“ Auch die Bonner Dramaturgin Nadja Groß schätzt Sarah Nemitz und Lutz Hübner unüberhörbar, als bescheidenes und professionelles Autorenteam, das in seinen Stücken von persönlichen Befindlichkeiten absehe: „Trotz der schweren Themen schreiben sie keine sarkastischen Stücke, sondern Komödien mit einer heilsamen Kraft.“
Herausragende Hauptfiguren, gar Helden sind in den Stücken von Sarah Nemitz und Lutz Hübner die Ausnahme. Meist entwickeln sich gruppendynamische Prozesse – oder die Protagonisten sind (wie in „Furor“) bei aller naturalistischen Zeichnung eigentlich Stellvertreter für gesellschaftliche Typen. Auch im Wohnungsfindungskampf-Drama „Der Haken“ ist eine dramaturgisch fein austarierte Gruppe zu finden: der schleimige Investor, zwei unsichere Start-up-Gründerinnen, ein zerstrittenes Ex-Paar, ein findiger türkischer Vater und der überforderte Neffe des Wohnungsbesitzers. Dieser wiederum, ein Diplomat in Rente, entpuppt sich am Ende gar als als zentrale Figur. Ein alter Mann, der seine Gebrechlichkeit zu ignorieren versucht und der sehr einsam geworden ist. Insofern ähnelt er der Hauptfigur des Keun-Dramas. Die Rheinländerin Sarah Nemitz war von der Schriftstellerin Irmgard Keun fasziniert, seitdem sie 18 Jahre alt war. Zusammen mit ihrem Co-Dramatiker Lutz Hübner wollte sie schon lange ein Stück über Keun schreiben.
Lutz Hübner: „Es ist selten, dass wir so lange um einen Stoff herumschleichen. Die meisten Romane von ihr sind großartig.“
Sarah Nemitz: „Das Wissen um ihre Biografie hat den Sog noch einmalverstärkt.“
Alte, einsame Menschen im Mittelpunkt
Irmgard Keun war eine ziemlich einsame Frau. Die gescheiterte Schauspielerin veröffentlichte 1931 ihren ersten Roman über eine Stenotypistin, die in Berlin ihr Glück machen will. Ein Jahr später legte sie einen weiteren Bestseller vor: „Das kunstseidene Mädchen“. Auch hier steht eine junge Frau im turbulenten Berlin der kriselnden Weimarer Republik im Mittelpunkt. Von 1936 bis 1940 ging Keun, deren Bücher von den Nazis verbrannt worden waren, ins Exil nach Belgien und in die Niederlande; nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande kehrte sie ins Haus ihrer Eltern nach Köln zurück und lebte dort illegal bis 1945.
Nach dem Krieg konnte sie nicht mehr an frühere literarische Erfolge anknüpfen, Alkoholismus und ein längerer Aufenthalt in der Psychiatrie folgten; kurz vor ihrem Tod 1982 verbesserte sich Keuns finanzielle Lage, ihre Bücher wurden wiederentdeckt. Das Keun-Stück spielt an einem Filmset im Jahr 1977, die fragwürdige Verfilmung von Keuns Leben wird durch einen Besuch der Schriftstellerin selbst in Unruhe versetzt. Das Thema des Stückes wurde im Januar 2022 mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus vereinbart.
Sarah Nemitz: „Dann hat es nach Kriegsbeginn eine furchtbare Aktualität bekommen.“
Lutz Hübner: „Wir bemerkten kurz nach der Entscheidung, was für eine makabre Aktualität angesichts der Lage von ukrainischen und russischen Künstlern in diesem historischen Stoff steckt.“
Die beiden jüngsten Stücke des freundlichen und effizienten Dramatiker:innen-duos stellen also zwei alte, einsame Menschen in den Mittelpunkt. Damit spiegeln diese sehr unterschiedlichen Texte auch eine von Vereinsamung in der Pandemie geprägte gesellschaftliche Atmosphäre. Die Beschäftigung mit deutlich älteren Figuren mag Zufall sein oder weise Voraussicht. Einsamkeit jedoch ist ein Begriff, der zu den beiden Autor:innen persönlich so gar nicht passen will. Regisseurin Mina Salehpour: „Wir sprechen immer von Lutz und Sarah, und man trifft sich auch immer mit Lutz und Sarah, die beiden sind sozusagen zusammengebunden.“ Nadja Groß beschreibt es so: „Man merkt schnell, dass die beiden nicht eine Person sind. Aber sie haben gemeinsam eine große Neugierde und haben sich gemeinsam die schwere Disziplin des Komödienschreibens ausgesucht.“ Und wenn doch eine/r von beiden einmal ein eigenes Stück oder einen Roman schriebe?
Sarah Nemitz: „Dann würde man schon angedackelt kommen und sagen, lies doch mal.“
Lutz Hübner: „Wir sind ja beide auch Schauspieler und arbeiten daher immer im Team.“
Sarah Nemitz wurde 1964 in Düsseldorf geboren. Von 1989 bis 1993 war sie am Rheinischen Landestheater Neuss als Schauspielerin engagiert. Es folgten Engagements am Theater Magdeburg und dem Theater Bielefeld. Seit 2001 arbeitet Sarah Nemitz als Dramatikerin kontinuierlich mit Lutz Hübner zusammen. Sie sind verheiratet und leben in Berlin.
Lutz Hübner wurde 1964 in Heilbronn geboren. Nach seiner Schauspielausbildung folgten Engagements am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken und dem Badischen Staatstheater Karlsruhe. Von 1990 bis 1996 arbeitete Hübner als Schauspieler und Regisseur am Rheinischen Landestheater Neuss und dem Theater Magdeburg. Seit 1996 ist er freiberuflicher Schriftsteller, zunächst schrieb er Stücke fürs Junge Theater.
Das meistgespielte Stück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz ist „Frau Müller muss weg“ (rund 80 professionelle Produktionen im In- und Ausland samt Verfilmung). In der laufenden Saison gibt es neben den beiden Uraufführungen von „Die fünf Leben der Irmgard Keun“ am Düsseldorfer Schauspielhaus und „Der Haken“ am Schauspiel Bonn drei Inszenierungen von „Furor“ und von „Die Wahrheiten“ sowie fünf Premieren weiterer Stücke.
Dieses Porträt ist erschienen im Heft 1/2023 der DEUTSCHEN BÜHNE.