
Zum Tod von Wolfgang Rihm
Foto: Wolfgang Rihm © Eric Marinitsch Text:Frieder Reininghaus, am 15. August 2024
Der Komponist, Musikwissenschaftler und Essayist Wolfgang Rihm ist mit 72 verstorben. Ein Nachruf.
Dem 22-jährigen Kompositionsstudenten Wolfgang Rihm, der eben von Karlheinz Stockhausens Landschulheim in Kürten an die Universität Freiburg gewechselt war, bescherte die Uraufführung von „Morphonie“ für Streichquartett und großes Orchester 1974 in Donaueschingen einen Achtungserfolg. Von nun an gehörte er zur Gilde – unübersehbar von der Größe des Körpers und des Volumens her, unüberhörbar durch den angriffigen Sound seiner oft (vor-)lauten Stücke und die häufig polemischen Texte zur neuen Musik.
Der Durchbruch zur großen Karriere stellte sich fünf Jahre später in Hamburg ein. Der zunehmend belesene Rihm bedachte Büchners Novelle über den ziemlich wahnsinnigen Sturm- und Drang-Schriftsteller Lenz mit Musik – getrieben von einem Stachel des „inneren Aufruhrs“. Als Glücksfall erwies sich das vom Kompositionsauftrag gesetzte Format hinsichtlich der Beweglichkeit und Machbarkeit des Bühnenwerks: „Jakob Lenz“ gehört zu den meistgespielten Kammeropern.
Über fünfhundert Werke
Rihm brachte über fünfhundert Werke für die Philharmonie- und Kammermusiksäle sowie kirchliche Zwecke zu Papier – alle säuberlich mit Bleistift geschrieben. Dennoch darf das Musiktheater als Hauptfeld seines Schaffens angesehen werden. Früh entwickelte er ein Faible für poètes maudits. Die von ihm bevorzugten Dichter endeten im Wahn – Hölderlin, Nietzsche, Wölfli und insbesondere Antonin Artaud. Aus dem obsessiven Textfundus des von Surrealismus, balinesischem Theater und „bewusstseinserweiternden“ Drogen geprägten Experimentalkünstlers Artaud leitete Rihm nicht nur als „work in progress“ vier größere Orchesterwerke ab, ein furioses Schlagzeugsextett, das abendfüllende „Tutuguri“-Ballett sowie das „Séraphin“-Projekt, sondern auch sein Hauptwerk: „Die Eroberung von Mexico“. Uraufgeführt in Hamburg 1992 thematisierte es den toxischen Konflikt zwischen dem Azteken-Fürsten Montezuma und dem Konquistador Cortés als Zusammenprall der Denkformen und Kulturen.
Parallel zum „Mexico“-Musiktheater entstand 1987 für Mannheim die auf eine rüde Szenenfolge von Heiner Müller gestützte „Hamletmaschine“, für Westberlin eine „Oedipus“-Oper. Bald übertraf die Nachfrage des Marktes die Liefermöglichkeiten auch eines so schnell und meist mit leichter Hand schreibenden Tonsetzers, selbst wenn dieser immer wieder Teile früherer Arbeiten recycelte.
Längst war der durch Dutzende von Stipendien und Preise geförderte Karlsruher Komponist bestens in Institutionen des Musikbetriebs eingebunden, vornan das Präsidium des Deutschen Musikrats, der Aufsichtsrat der GEMA oder die so einflussreiche wie finanzkräftige Siemens-Musikstiftung. Sie kürte ihn 2003 zum Hauptpreisträger. Die Salzburger Festspiele, denen er zuletzt „Dionysos“ bescherte, widmeten ihm wie keinem anderen wiederholt gewichtige Programmschwerpunkte. Das erste Bundesverdienstkreuz stellte sich 1989 ein (es folgten weitere der höheren Klassen). Jetzt ist der höchst repräsentative Großkomponist nach langer Krankheit am 27. Juli in Ettlingen gestorben.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 4/2024.