Zu sehen ist die Geschäftsführende Dramaturgin am Nationaltheater Mannheim, Lena Wontorra. Sie lehnt an einer Straßenlaterne.

Theater im Ex-Kasernengebiet

Das Nationaltheater Mannheim bezieht während seiner Generalsanierung ein Interim am Stadtrand, wo einst US-Soldaten kaserniert waren. Ein Gespräch mit der geschäftsführenden Dramaturgin Lena Wontorra über die Verantwortung und die Chance, für diesen Ort das passende Konzept zu finden.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Frau Wontorra, Sie kamen ursprünglich nach Mannheim, als die Umzugspläne noch fern waren. Was ging Ihnen durch den Kopf, als die Herausforderung manifest wurde?

Lena Wontorra Es ist eine besondere Erfahrung, wenn man eine neue Spielplankonzeption für einen Raum entwickeln darf, den man gar nicht kennt. Man weiß noch nichts über die konkrete Bühne, die Blickachsen, die Wirkung des Raums, auch wenn man vorher natürlich die Baustelle besucht hat. Und es gibt weitere Unbekannte: den Ort, seine Bewohner:innen, seinen Charakter und die Anbindung. Erst mit der Zeit hat sich ein genaueres Bild von einer Zukunft unserer neuen Spielstätte und der neuen Nachbarschaft ergeben. Diesen Prozess habe ich als eine schöne Herausforderung empfunden und tue es immer noch.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Wie beeinflussen die neue Architektur und das unbekannte Umfeld Ihre Planungen?

Lena Wontorra Natürlich denkt man intensiv über diesen neuen Standort am Rand der Stadt nach. Insbesondere seine Geschichte beschäftigt uns sehr. Was hat ihn geprägt? Das hier war eines der größten Kasernengebiete Deutschlands. Mehrere Zehntausend amerikanische Soldat:innen und ihre Familien haben hier bis 2011 gelebt und gearbeitet. Und geschichtlich war das eine ziemlich spannende Zeit: von der Ankunft der US-Army am Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenleben im Nachkriegsdeutschland über den Kalten Krieg, den Zusammenbruch des Ostblocks, den 11. September 2001 bis zum Abzug der letzten hier stationierten Soldat:innen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Was wollen Sie historisch aufgreifen?

Lena Wontorra Uns interessieren zum Beispiel die Geschichten der GIs und ihrer Kinder. Wie ging es ihnen hier? Welche Erfahrungen haben sie in dem Nachkriegsland gemacht? Und wie lebte es sich in diesen amerikanischen Gated Communities, wie Franklin eine war? Welchen Austausch gab es mit der Stadtbevölkerung, und welche Biografien trafen da aufeinander?

DIE DEUTSCHE BÜHNE Und wie gehen Sie auf die Bewohner:innen des Viertels von heute zu?

Lena Wontorra In dieser Spielzeit arbeitet beispielsweise unser Stadtensemble schon intensiv vor Ort, knüpft dabei Kontakte mit den Bewohner:innen des hier entstehenden jüngsten Mannheimer Stadtteils. Erste Ergebnisse dieser Auseinandersetzung sind im Performancezyklus „Vier Jahreszeiten“ zu sehen. Dann gibt es in dieser Spielzeit eine Uraufführung von Björn Bicker, der sich mit dem Quartier und seiner Geschichte beschäftigt und Interviews mit den hier lebenden Menschen geführt hat. Und auch die anderen Positionen, die wir uns für das Kino ausgedacht haben, beschäftigen sich auf die ein oder andere Weise mit der Geschichte des Ortes. In Johanna Wehners Inszenierung „Casablanca – Gehen und Bleiben“ spielen wir sowohl auf die Vergangenheit unseres neuen Theaters als ehemaliges GI-Kino als auch auf die Geschichte des Ortes an, die ja ein Ergebnis des Weltkriegs war. Wir profitieren derzeit inhaltlich alle enorm von diesen Recherchen.

Zu sehen ist die Interimsspielstätte des Nationaltheaters Mannheim auf dem Franklin-Gelände. Um das Gebäude herum sitzen Menschen an Tischen.

Die Interimsspielstätte des Nationaltheaters Mannheim auf dem Franklin-Gelände, einem ehemaligen US-Army-Stützpunkt. Foto: Maximilian Borchardt

DIE DEUTSCHE BÜHNE Wie ist Ihr persönlicher Eindruck von der neuen Umgebung?

Lena Wontorra Hier wird gerade in einem unglaublich hohen Tempo unglaublich viel gebaut. Viele Menschen – vor allem junge Familien – wohnen schon hier, aber es gibt noch so gut wie keine soziale Infrastruktur. Auf der anderen Straßenseite liegt ein Viertel namens Vogelstang, das in gewisser Hinsicht als Vorbild und als Gegenstück zu Franklin gelesen werden kann: Hier wurden in den 1960er-Jahren Blockbauten für junge Familien hochgezogen. Heute leben hier vor allem ältere Menschen, weil die jungen weggezogen sind. Man hat das Gefühl, hier ist die Zeit stehen geblieben. Und zwischen den beiden Vierteln stehen noch alte Kasernen, in denen derzeit über 1000 Geflüchtete untergebracht sind, vor allem aus der Ukraine. Um die Eigenheiten dieser Gegend besser zu verstehen, haben wir die ein oder andere Fahrradtour zu den umliegenden Vierteln unternommen und sammeln weiterhin Eindrücke. Ich glaube, es ist nicht unmöglich, dass wir hier auch neues Publikum dazugewinnen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Haben sich dabei spezifische Themen herauskristallisiert, die die Bewohner:innen interessieren?

Lena Wontorra Ich finde es immer etwas schwierig, nicht in Klischees abzudriften, wenn man einem sehr heterogenen Publikum Interessen zuschreibt. Wir wollen mit der neuen Spielstätte auch versuchen, die Diversität der Stadt und damit der Gesellschaft allgemein abzubilden. Für mich ist das der Auftrag eines Stadttheaters.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Wo sehen Sie die Herausforderungen für das Stammpublikum?

Lena Wontorra Sicherlich stellt die für Mannheim verhältnismäßig lange Fahrt mit der Straßenbahn für manche eine Herausforderung dar, zumal unser Publikum ja zuvor mitten in der Stadt ins Theater gehen konnte. Außerdem werden viele das Franklin Village noch als Gated Community labeln, was es ja sowohl direkt nach dem Krieg als auch später wieder, nach dem 11. September 2001, lange Jahre war. Und die Bindungsbereitschaft des Publikums hat sich durch die Pandemie auch verändert. Aber dafür kann der Standortwechsel auch eine Chance sein. Wir sind auf einmal Nachbar:innen von Menschen, die wir vorher vielleicht gar nicht erreicht haben, weil wir für die weit weg waren. Im Übrigen stellt die neue Situation uns selbst vor logistische Herausforderungen, wenn sich die Gewerke über die Stadt verteilen. So lernen wir – und auch unser Publikum – neue Wege kennen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Wird man in so einer Interimsstätte eigentlich experimenteller?

Lena Wontorra Ja, schon. Es ist durch den Umzug eine Aufbruchsstimmung zu erkennen, vor allem nach Corona. Jetzt offenbart sich eine Wiederkehr des Teamgeists, der so wunderbar ist am Theater. Ich bemerke eine neue Lust auf die gemeinsame Arbeit. Dieser Geist des Zusammenwirkens hat die ganze Vorbereitungsphase begleitet und lässt sich vielleicht mit der Vorfreude bei einem Neubezug einer Wohnung vergleichen. Dieser Funke springt dann hoffentlich nachhaltig auf unser Publikum über. Programmatisch setzen wir neben der Beschäftigung mit dem Ort auch auf große Theaterstoffe, die mit klugen Regiezugriffen einen Aktualitätsbezug zulassen. Aber auch das Institut für Digitaldramatik wird eine Wiederauflage erleben. Wir arbeiten also an einem breiten Angebot sowohl für die hiesigen Bewohner:innen, die uns erst einmal kennen lernen müssen, als auch die Besucher:innen, die uns schon kennen. Im Moment gibt es sowohl bei unserem Stammpublikum als auch den neuen Nachbar:innen eine große Neugier auf den Ort und die neue Spielstätte.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Wenn in den umliegenden Vierteln nicht unbedingt ein Großteil des Stammpublikums des Nationaltheaters wohnt: Wie könnte man jene für die anstehenden Schillertage begeistern?

Lena Wontorra Das wird spannend. Neben den Aufführungen wird es im Festivalzentrum am Alten Kino auch Konzerte und ein Außenprogramm geben. Dadurch können die Berührungsängste bei jenen, die noch nicht so vertraut sind mit der Institution Theater, schwinden. Übrigens gehen wir davon aus, dass in das Franklin-Viertel perspektivisch viele junge Familien ziehen werden. Auch die müssen wir im Blick haben. Aber derzeit gibt es hier, wenn ich es richtig sehe, erst ein Café und einen Supermarkt. Es ist also alles noch offen, und wir können das kulturelle Leben hier aktiv mitgestalten, das ist für ein Theater eine wunderbare Aufgabe. Klar ist für uns in diesem Stadium, dass wir neben dem Theaterprogramm auch einen Ort des Verweilens schaffen und dadurch das Quartier beleben wollen. Das Festivalzentrum der 22. Internationalen Schillertage wird dafür ein erster Anlauf sein.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Das Anliegen, hier mit neuen Stoffen und Stücken auf sich aufmerksam zu machen, ist nachvollziehbar. Wie sieht es mit Klassikern aus?

Lena Wontorra Das Gebäude diente ja vormals als Kino. Deswegen fragen wir uns auch, was die Blockbuster des Theaters sind. „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht, unser Eröffnungsstück, gehört ganz bestimmt dazu. Also: Große Stoffe, große Themen, unterschiedliche Formate, damit wollen wir neugierig machen.

LENA WONTORRA, geboren 1994 in Köln, ist seit der Spielzeit 2022/23 Geschäftsführende Dramaturgin im Schauspiel am Nationaltheater Mannheim. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und Medienkulturwissenschaft in Köln und kuratierte verschiedene Bühnen- und Festivalformate. Für das 2021 entstandene analoge Postdrama „Cecils Briefwechsel“ wurde sie zusammen mit Sapir Heller mit dem Dr. Otto Kasten-Preis der Intendant:innengruppe des Deutschen Bühnenvereins ausgezeichnet.

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 4/2023.