Walter Hess

„Walter will’s wissen”

Walter Hess ist der älteste Schauspieler an den Münchner Kammerspielen. Dennoch entdeckt der mittlerweile 85-Jährige immer neue Spielwelten. Ein Porträt aus dem Jahr 2019 anlässlich seines 80. Geburtstags.

Walter Hess lacht. Er schwingt seine Arme über den Kopf, tanzt ausgelassen zu „September“ von Earth, Wind & Fire. Ein kleines Video der Weihnachtsfeier der Münchner Kammerspiele, gepostet auf Instagram. Es zeigt den Schauspieler, wie er ist: neugierig und voller Lust aufs Leben und das Theater. Am 8. März ist Walter Hess 80 Jahre alt geworden. „Walter will’s wissen“, sagen seine Kollegen im Ensemble der Münchner Kammerspiele über ihn. Denn in den vergangenen Jahren ist er aktiver denn je. Zumindest kommt es einem als Zuschauerin so vor.

Wo andere in seinem Alter daran denken würden, sich zur Ruhe zu setzen, lässt Hess sich auf jedes Experiment ein. So ist er Stammschauspieler in den Münchner Inszenierungen von Susanne Kennedy. Jetzt im April hat er mit ihrer „Drei Schwestern“-Interpretation Premiere. In Kennedys „Die Selbstmord-Schwestern/The Virgin Suicides“ fand sich Walter Hess in einem Ganzkörperkostüm mit Maske wieder, von ihm selbst war nichts zu sehen. Macht ihm nichts, Eitelkeit hält er für „extrem überbewertet“.

Immer im Dienst der Inszenierung

Hess stellt sich in den Dienst der Sache, heißt: der Inszenierung. In Christopher Rüpings extrem reduzierter „Hamlet“-Version spielten er, Katja Bürkle und Nils Kahnwald den Horatio, Hamlets Freund, erzählten in einem intensiven Kammerspiel vom Blutvergießen in einer korrumpierten Welt. In „50 Grades of ­Shame“ von She She Pop machte er sich mit einem gemischten Ensemble aus Performern, Laien und Schauspielern auf die Suche nach heutigen Tabus und der Scham. Er war mit 77 Jahren der Älteste, die jüngste Darstellerin war 16 Jahre alt. Im Ensemble der Kammerspiele ist Walter Hess der Nestor, seit er 2002 nach München kam. Und einer der wenigen, der unter wechselnden Intendanten noch immer am Hause ist.

„Ich begreife meine Arbeit als eine ständige Weiterentwicklung“, sagt er. „Wenn ein Theater gesellschaftlich ausgerichtet ist, bedeutet das ja immer eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart.“ Hess genießt das, reist schon mal nach Teheran, wenn er mit einem iranischen Regisseur wie Amir Reza Koohestani zusammenarbeitet. Weil er sich selbst ein Bild machen will. Weil er sich für die Welt interessiert, mit der er sich auf der Bühne beschäftigt. „Ich suche immer das Ganze“, erklärt er. „Und ich finde es toll, dass ich mich mit so verschiedenen Themen beschäftigen kann.“

Hess kommt aus der Schweiz, aus Luzern. Seine erste Begegnung mit dem Theater war die örtliche Laienspielschar. Dort hat er Nestroys „Lumpazivagabundus“ gesehen. „Ich war fasziniert“, erinnert er sich. „Ein totales Vergessen von allem, was um mich herum war.“ Die Emotionalität der Aufführung war in seiner „verhaltenen Umgebung“ etwas völlig Neues. Er machte eine Buchdruckerlehre, aber irgendwoher tauchte der Wunsch auf, Schauspieler zu werden.

Vom Buchdrucker zum Schauspieler

Nach Lehre und Rekrutenschule ging er nach Zürich. Halbtags arbeitete er als Buchdrucker, in der übrigen Zeit nahm er Schauspielunterricht. „Ich habe mir erhofft, dass die mir sagen: ,Sie müssen unbedingt Schauspieler werden!‘ Das fand nicht statt.“ Hess lacht. Wie er überhaupt sehr oft lacht. Dann kräuselt sich seine Nase, und man ahnt den „Naturburschen“, den seine nächste Schauspiellehrerin in ihm sah, Linde Strube. Sie war die Erste, die sich an seinen Rollen „erfreut hat“ und ihm so das nötige Selbstvertrauen gab.

Also fuhr er durch Deutschland, eine Vorsprechreise. Vom Münztelefon am Bahnhof aus rief er im jeweiligen Theater an, fragte, ob sie „eine Vakanz“ hätten – und sprach bei einigen Bühnen vor. Zurück in der Schweiz hatte er einen Stückvertrag in Karlsruhe, den er allerdings nicht annahm. Stattdessen machte er eine Regieassistenz in Konstanz. Parallel legte Hess seine Bühnenreifeprüfung in Stuttgart ab, schließlich hatte er kein Abschlusszeugnis einer Schauspielschule. „Zurück in Konstanz habe ich gesagt, ich bin jetzt Schauspieler – und habe mein erstes Engagement bekommen.“

1963 bis 1968 blieb er dort, auch wenn er sich in das starre Stadttheatersystem mit Rollenfächern nur schwer einfügen konnte. Jugendlicher Liebhaber? Blonder Held? Eher nicht. „Ich war der jugendliche Komiker, aber auch der Naturbursche und ein bisschen Charakterfach“, erinnert er sich. „Aber zu der Zeit war Theater sehr traditionell. Dieses Experimentieren, wie wir es heute machen, gab es noch nicht.“ Der Regisseur sagte dem Schauspieler, was er bei welchem Satz zu tun habe. „Wenn man fragte, wieso, war die Antwort: ,Weil ich es will.‘ Das war nicht meine Art“, so Hess.

Nach einer Zeit als freier Schauspieler am Schauspielhaus Zürich und dem Theater Basel tat er sich darum 1972 mit ein paar Kollegen zusammen, alle zwischen 25 und 30 Jahre alt. Gemeinsam verwandelten sie das Zürcher Theater an der Winkelwiese in ein Kollektivtheater. Mit Einheitsgagen, ohne Hierarchien. „Dahinter war der Gedanke, dass eine ganz andere Kraft entsteht, wenn alle hinter der Sache stehen“, erzählt er. „Wir wollten politisch verhaftet und zeitgenössisch sein.“ Statt einfach auf den Besetzungszettel zu schauen und zu machen, was der Regisseur sagt, wollten sie sich mit Inhalten auseinandersetzen, sich Stücken über Improvisation nähern. „Angefangen haben wir mit ‚Bremer Freiheit‘ von Fassbinder, da ging es um die Emanzipation der Frau. Wir haben Kontakt zur FBB, der Frauenbefreiungsbewegung, aufgenommen, wollten ein Diskussionsort zu Fragen der Zeit sein.“

Die Anfänge: Winkelwiese und Schauspiel Bonn

Bis 1980 blieb Hess an der Winkelwiese, dann zog es ihn weiter, er arbeitete frei – an der Winkelwiese und anderswo. 1987 holte ihn der Regisseur David Mouchtar-Samorai für seine „Nachtasyl“-Inszenierung ans Schauspiel Bonn. Anschließend bekam Hess dort einen Jahresvertrag. „Ich konnte mir drei Monate unbezahlt freinehmen für etwas anderes, war aber fest im Ensemble“, erzählt er. „Für mich, der ich in Zürich lebte, war das wunderbar. So bin ich für ein Stück nach Bonn gegangen und schließlich zehn Jahre geblieben.“

In Bonn begegnete Hess einem Regisseur, der wesentlich werden sollte in seinem künstlerischen Leben: Andreas Kriegenburg. Mit ihm machte er „Fegefeuer in Ingolstadt“, eine Arbeit, die Walter Hess als „erstaunlich“ und „provokativ“ in Erinnerung hat. Für seinen „Wilhelm Tell“ in Hannover fragte Kriegenburg Hess 1996 erneut an. Daraus entstand ein fester Vertrag: Hess blieb die letzten drei Jahre der Intendanz von Ulrich Khuon in Hannover. Im Jahr 2000 begleitete er dann Christoph Marthalers Start amSchauspielhaus Zürich. Der Kreis hatte sich geschlossen, Hess war daheim in Zürich, zog wieder in seine Wohnung. Alles perfekt, eigentlich. „Aber nach der ersten Spielzeit hatte ich irgendwie das Bedürfnis, wieder nach Deutschland zu gehen. Das schien mir spannender zu sein“, erinnert er sich.

Also suchte er den Kontakt zu Frank Baumbauer, der gerade die Intendanz der Münchner Kammerspiele übernommen hatte. Und wieder – wie in Zürich – begegnete er Andreas Kriegenburg; und er spielte seine erste Münchner Rolle in dessen „Orestie“-Inszenierung. Seitdem war er in jeder Kriegenburg-Inszenierung an den Kammerspielen dabei: mit überdimensionierten Masken in „Drei Schwestern“, in den kolossalen „Nibelungen“, auf der Drehscheibe in „Der Prozess“ …

Walter Hess spielt sich nie in den Vordergrund, er nimmt sich selbst nicht zu wichtig. Aber er ist einer, der immer fehlen würde: ein Ensemblespieler. Der mit seiner Konzentration, seiner Präsenz und seinem leisen Humor eine Produktion zusammenhält. In Christoph Marthalers „Tiefer Schweb“, einem großen Abend über das Abtauchen und Drumherumreden, das Viel-Reden und Wenig-Sagen, übernimmt Hess den Vorsitz dieser merkwürdigen Delegation, die in einer Kapsel tief unten im Bodensee das Flüchtlingsproblem lösen soll. Seinen 80. Geburtstag am 8. März wollte Hess auf der Bühne der Münchner Kammerspiele feiern (wo auch sonst?), mit einer Vorstellung ebendieser Inszenierung: „Tiefer Schweb“.

Angekommen in München

In München ist er, der Rastlose, angekommen. Seit er hierhergekommen ist, wohnt er im Lehel, ein paar Minuten zu Fuß zum Theater. Hess lebt alleine, seine zwei Söhne aus seiner Bonner Zeit sind bei der Mutter geblieben. Er genießt dieses ruhige und doch so zentrale Viertel, die Cafés im Sommer, die Nähe zum Englischen Garten. „Ich weiß nicht einmal, ob ich zurück in die Schweiz gehen würde, wenn ich hier aufhöre“, sagt er. Aber noch denkt Hess nicht ans Aufhören: „Ich gehöre auf die Bühne, das Theater ist schon mein Leben“, sagt er. Und so lange er die Lust am Spielen nicht verliert, will er weitermachen. Das Alter hat ihm eine größere Gelassenheit gebracht, er muss sich nicht mehr beweisen. „Und vielleicht ein stärkeres Vorhandensein, ein Zu-sich-Finden“, fügt er hinzu. „Dadurch habe ich manchmal das Gefühl, mich noch weiter zu entwickeln.“

Und tatsächlich: In Trajal Harrells „Morning in Byzantium“ spielt Walter Hess das erste Mal in einem Tanzstück. Mit wehender Jacke springt er durch den Raum: „Ich genieße das sehr! Dieser letzte Tanz mit den jungen Tänzern ist so animierend, dass ich wirklich aufpassen muss, dass ich nicht zu beherzt über meine körperlichen Grenzen komme.“ Aber vielleicht – oder wahrscheinlich – ist es gerade das, was ihn so jung hält: seine Neugier und seine Aufgeschlossenheit. Seine Verschmitztheit dem Leben und dem Theater gegenüber. „Jetzt muss ich sehen, wie die Zukunft aussieht“, sagt er. „Vielleicht sind ja Tanzprojekte eine Möglichkeit, wenn man den Text im Alter nicht mehr beherrscht.“ Und lacht.

Dieser Text erschien in Ausgabe 4/2019 der DEUTSCHEN BÜHNE.