Steht die Münchner Bier- und Restaurantkultur über der Theaterkultur?

Krisentagebuch 39 – Bayerische Gaststättenkultur

In Bayern gehen die Uhren oft irgendwie anders als im Rest der Republik. Vor allem seit Beginn der Pandemie. Ministerpräsident Markus Söder war 2020 schnell darin, den Katastrophenfall auszurufen, präsentierte sich gerne als der Strengste im ganzen Land. Nun aber, da Omikron vor den Türen lauert, vollzieht er eine merkwürdige Kehrtwende: 2G plus in der Gastronomie, wie im Bund-Länder-Beschluss vorgesehen, das geht ihm zu weit. Er sei „skeptisch“, ob das sinnvoll sei, vermisst „gesicherte Expertisen“.

Kultur und Gastronomie in Bayern

Wenn man in Bayern lebt, bekommt man den Eindruck, so ein Virus macht einen Unterschied zwischen Kultur und Gastronomie, verbreitet sich besonders gerne in Theatern oder Kinos, besonders ungern dagegen in Wirtshäusern. Die Frage, ob 2G plus in der Gastronomie Sinn mache, mit Nein zu beantworten, ist einigermaßen absurd in einem Bundesland, in dem in Theatern (und anderen Kulturstätten) bereits seit Mitte Dezember 2G+ gilt. Das aber scheint Söder vergessen zu haben – oder es interessiert ihn schlicht nicht. Hier wurde nicht lange geprüft, ob all die Maßnahmen nicht vielleicht ein wenig übers Ziel hinausschießen, hier wurden sie einfach beschlossen. Wer hierzulande tatsächlich noch ins Theater gehen will, fühlt sich wie auf einer Hochrisiko-Unternehmung. Nicht nur dass zusätzlich zum Impf- oder Genesenennachweis ein Booster oder tagesaktueller Test notwendig ist, es dürfen auch nur 25 Prozent der Plätze besetzt sein, die FFP2-Masken müssen durchgehend getragen werden.

Theater gefährdet die Gesundheit, das ist der Eindruck, den die bayerische Staatsregierung im Grunde seit Beginn der Pandemie vermittelt. Als ginge es bei Kulturveranstaltungen zu wie beim Après-Ski. Als hätten die Theater die ohnehin strengen Vorgaben nicht sogar teilweise übererfüllt, um ihr Publikum zu schützen: So empfahlen die Münchner Kammerspiele zum Beispiel schon im Herbst wieder das Tragen von Masken, als das noch gar keine Pflicht war. Und: Das Publikum beachtete diesen Hinweis nicht nur, die meisten hatten bereits eine Maske auf, als die entsprechende Durchsage kam. Die Kontrollen der Auflagen in der Bayerischen Staatsoper gleichen der Sicherheitskontrolle am Flughafen (oder übertreffen sie sogar). Ohne alle Nachweise und Ausweisdokument kommt niemand rein, selbst während der Vorstellung wacht das Einlasspersonal penibel auf korrekt sitzende Mund-Nasen-Bedeckungen. Einige Veranstalter wie das Münchner Metropoltheater haben aus Vorsichtsgründen sogar freiwillig geschlossen. Kurz: Die Münchner Kulturinstitute – hier weiß ich es aus eigener Erfahrung – sind eher die Streber in der Pandemie als deren Treiber. Wer einen anderen Eindruck verbreitet, war wohl sehr lange nicht an so einem Ort.

Wer dagegen in der bayerischen Gastronomie unterwegs ist, sucht nicht selten vergebens nach den aus der Kultur bekannten Kontrollstellen. Hier, wo laut Beschluss von gestern auch in Zukunft nur 2G gilt und ansonsten in vollbesetzten Gaststuben gespeist, getrunken und geredet wird, wird mit den Vorgaben sehr unterschiedlich umgegangen. Wo im einen Restaurant gewissenhaft geprüft wird, fällt die Kontrolle im anderen Café komplett aus. Das leibliche Wohl steht in Bayern deutlich über dem kulturellen, was schon in früheren Pandemie-Phasen zu absurden Sonderregelungen führte: Wurden zu einer Kulturveranstaltung Speisen serviert, durften mehr Leute kommen als ohne Verköstigung. Es gab vereinzelt Veranstalter, die gewitzt oder verzweifelt genug waren, hier eine Chance zu wittern: Man servierte alibimäßig Häppchen als „Mini-Menü“, um unter die Gastronomie-Regeln zu fallen… Soll das die Lösung sein? Schweinsbraten zu „Giselle“, Pasta zum „Hamlet“? Leute, echt jetzt? Welcher Prüfung sollten derartige Regelungen standhalten? Der Veranstalter Andreas Schessl (Münchenmusik) hat nun gegen die Ungleichbehandlung geklagt. Sein Eilantrag wurde zwar abgewiesen, doch der Senat erkannte „,keinen sachlichen Grund für eine Differenzierung zwischen Betriebsarten der Gastronomie’ und den Kulturbetrieben, die in letzteren zu Zugangsbeschränkungen führen müssten“.

Offener Brief der Kulturinstitutionen in Sachsen

Es ist mit Sicherheit nicht der richtige Moment, nach weitgreifenden Lockerungen zu rufen. Wo die Theater in Sachsen gerade aus ihrem Lockdown zurückkehren, stellen Theater in Mecklenburg-Vorpommern gerade ihren Spielbetrieb wegen zu hoher Infektionszahlen ein. Das Zimmertheater Tübingen meldet sich ab in die Omikron-Quarantäne (ein Szenario, das wohl nicht singulär bleiben wird in den nächsten Wochen). Die Zahlen steigen rasend schnell, was genau das für die Krankenhäuser und die Gesellschaft bedeuten wird, weiß keiner. Es ist also richtig, vorsichtig zu sein. Doch Vorsicht bedeutet nicht Willkür. Auf Initiative der Dresdner Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch haben sächsische Kulturinstitutionen gerade einen Offenen Brief an die Sächsische Staatsregierung übergeben, der sehr deutlich macht, wo das Problem liegt. Laut Kulturministerkonferenz am 5. Januar seien „Schließungen kultureller Angebote nur in äußersten Notlagen gerechtfertigt“ und „müssten in ein Gesamtkonzept eingebunden sein, das die tatsächliche Wirkung auf das Infektionsgeschehen gewichte“. Weiter heißt es: „Wenn nun die Sächsische Staatsregierung mit Verweis auf eine Minderheit der Ungeimpften begründet, warum alle Kultureinrichtungen erneut unter dem Vorbehalt der Schließung stehen, wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen.“ Und weiter: „Für die vielfältigen Kultureinrichtungen in Sachsen bedeutet das eine weitere Marginalisierung und Demotivierung bis hin zur Existenzbedrohung für privatwirtschaftliche Veranstalter. Ein weiterer Kultur-Lockdown ist nicht mit Geld zu heilen. Das mehrfache kurzfristige Schließen, zwischenzeitliche Öffnen und erneute Schließen zermürbt Veranstalter, Betreiber, Beschäftigte und Publikum gleichermaßen und gefährdet Kunst und Kultur in ihren Grundfesten.“

In dieser angespannten Situation also mutiert Markus Söder, der sich immer als Vorsitzender von „Team Vorsicht“ sah, auf einmal zu „Team Leichtsinn“, wie die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Schulze es formulierte. Man muss kein Virologe sein, um zu ahnen, dass in einem voll besetzten Lokal, in dem gegessen und gesprochen wird, mehr Aerosole herumschwirren als in einem Theater, in dem ein maskiertes Publikum gesittet und stumm am Platz sitzt – und das in den meisten Fällen über bessere Lüftungsanlagen verfügt.

Warum also wieder und wieder so ungemein strengere Vorgaben für die Kultur? Theater in Zeiten von Corona ist ohnehin etwas für Hartgesottene. Es wäre an der Politik, endlich die Bemühungen der Theater anzuerkennen, die bücherdicke Hygienepläne erstellt und alle Maßnahmen gewissenhaft mitgetragen haben. Die Kulturschaffenden haben ihre Häuser sicher gemacht, teilweise wie das Münchner Volkstheater sogar Teststationen im Haus eingerichtet. Wenn 2G+ und Maskenpflicht gelten, wäre dann nicht zumindest eine 50 Prozent-Auslastung denkbar? Das vielerorts bewährte Schachbrett? Es wäre an der Zeit, dass Bayern sich endlich wieder als das positioniert, was es doch neben Laptop und Lederhose, neben Biergarten und Hofbräuhaus einmal sein wollte: ein Kulturstaat.

 

Anne Fritsch ist feste freie Autorin der Deutschen Bühne und der jungen bühne und lebt in München.