Der Warner und der Ignorierer – Bundesgesundheitsminister Spahn (r.) und RKI-Präsident Wieler verkünden: Die Infektionszahlen steigen sehr stark.

Krisentagebuch 36 – Nur noch deprimierend

Nein, ich habe mich wirklich nicht darum gerissen, hier und heute das Format des Krisentagebuchs wieder aufleben zu lassen. Aber ja: Ich habe es kommen sehen. Das war nicht schwer. Denn wirklich alle mit Corona befassten Wissenschaftler, die Virologen, die mathematischen Modellierer, die Vertreter der Ärzteschaft und Intensivmediziner, und ja, auch der Herr Lauterbach, sie alle haben uns frühzeitig, minuziös und auch für Laien unmissverständlich vorgerechnet, was uns blühen würde, wenn wir die zur Herdenimmunität nötige Impfquote nicht erreichen und dennoch so tun, als wäre die Pandemie zu Ende. Und was hat die Politik in Deutschland getan? Sie hat nahezu tatenlos hingenommen, dass die nötige Impfquote nicht erreicht wurde. Und sie hat ebenso tatenlos so getan, als sei die Pandemie besiegt.

Ein Großteil der Impfzentren wurde geschlossen. Nun will der geschäftsführende Gesundheitsverweser Spahn sie schnell wieder öffnen – wohl wissend, dass das viel zu spät kommt und so schnell natürlich auch nicht zu machen ist. Die „andere Situation“ durch die Impfung wurde beschworen, der Inzidenzwert für irrelevant erklärt, weil schwere Verläufe die seltene Ausnahme seien. Womit die längst vorhandene Erkenntnis ignoriert wurde, dass der Schutz durch Impfung nicht vollständig ist und auch leicht infizierte Geimpfte das Virus weitertragen können. Vor vier Tagen noch rief Kölns Oberbürgermeisterin den Beginn des Karnevals aus und erwartete allen Ernstes, dass nur 2G-Geprüfte in die Feierzonen gelassen würden. Einlasskontrolle beim Straßenkarneval?? Wer’s glaubt, wird selig – und demnächst vielleicht krank. Und im Tagesthemen-Interview behauptete der große FDP-Zampano Lindner allen Ernstes, dass Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen, denen die Ampel-Unterhändler gerade die gesetzliche Grundlage entziehen wollten, „nach wissenschaftlichen Untersuchungen keine Wirksamkeit haben“. Inzwischen entschuldigte er sich, wenn er „in den Tagesthemen missverständlich war“.

 

Blind für die Fakten der Pandemie

Es hätte im Rahmen ihrer Informationsmöglichkeiten als Spitzenpolitiker gelegen, sich da durchaus weniger missverständlich zu informieren. Und es hätte in ihrer Verantwortung gelegen, Schaden vom politischen Gemeinwesen abzuwenden. Aber nein: Gute Schlagzeilen mit beifallsheischenden Öffnungsversprechen, politisches Taktieren im Koalitionspoker und falsche Fürsorge dergestalt, dass nicht nach der realistischen Lage, sondern nach dem politischen Instinkt darüber befunden wurde, was den Menschen vermeintlich zumutbar sei – all das war ihnen wichtiger als die wissenschaftlichen Fakten. Ebenso kontrafaktisch, wie Trump seine Wahlniederlage leugnete, wurden die Fakten der Pandemie verleugnet. Dass Deutschland derart schlecht regiert wird, ist bestürzend – denn es geht bei alledem immer auch um Menschenleben.

Und jetzt haben wir den Salat. Auch die Theater haben ihn. Gerade hat die die Stiftung Semperoper – Förderstiftung aufgrund der aktuellen Corona-Situation die für Sonntag geplante Verleihung des Phoenix-Preisträger-Award abgesagt. In Frankfurt cancelt der Patronatsverein des Opernhauses seine Operngala. Vorstellungsabsagen wegen Corona-Ausbrüchen in den Ensembles häufen sich. Und die Theater, die noch vor ein paar Wochen vollmundig die Rückkehr zu 2G-Veranstaltungen bei voller Auslastung verkündeten, werden nun von der Erkenntnis eingeholt, dass selbst 2G-Personen das Virus weitertragen können. Schon fordert der erst verspätete und nun plötzlich hochbeschleunigte Gesundheitsminister 2G plus (aktuellem Test) für Innenräume. Dabei weiß man doch, dass Schnelltests  unsicher und PCR-Tests aufwendig sind. Vor diesem Hintergrund warnen immer mehr Experten vor größeren Menschenmengen in geschlossenen Räumen, vor Ansammlungen ohne Abstandsregeln, vor gemeinsamem Singen (Oper!) und Brüllen (Karneval!) selbst draußen und selbst dann, wenn vermeintlich alle geimpft sind. Und in die öffentlichen Diskurse schleicht sich die leise Ahnung, dass aufgrund gefälschter Testzertifikate und Impfausweise, vor allem aber mangels konsequenter Kontrollen 3G oder 2G oder Was-auch-immer-G in der Praxis oft schlicht bedeutet: 0G.

 

3G, 2G, 0G

Den meisten Bühnen darf man bescheinigen, dass sie verantwortungsvoller mit ihren Zuschauern umgegangen sind als die Politiker mit den Bürgern dieses Landes. Sie haben beim Einlass getestet, viele haben trotz 3G oder 2G am Schachbrett festgehalten und haben alles getan, um ihrem Publikum nicht nur ein Gefühl, sondern tatsächlich eine faktische Situation der optimalen Sicherheit zu geben. Daran sollten sie unbedingt festhalten. Sie sollten auf den Abstands- und Hygienemaßnahmen, die die Politik derzeit noch leichtfertig verschmäht, bestehen, sollten das Schachbrett trotz 2G beherzigen, und ja, auch wieder die Maskenpflicht im Zuschauerraum einführen. Nach allem, was man aus den ersten Wellen der Pandemie weiß, als die Geimpften noch eine Minderheit bildeten, können solche Maßnahmen durchaus wirksam sein.

Ob das am Ende auch politisch hilft, weiß kein Mensch. Gut möglich, das die galoppierende Inzidenz und die drohende Überlastung der Intensivstationen nach der faktenblinden politischen Untätigkeit jetzt wieder eine ebenso faktenblinde politische Panikreaktion hervorruft, in der die Theater trotz optimaler Sicherheitskonzepte genau so pauschal untergehen wie schon in den Lockdowns eins bis drei. Gut möglich aber auch, dass der Betrieb von innen heraus lahmgelegt wird, weil es auch in den Häusern selbst ja die Impfverweigerer gibt und die Durchbruchsinfektionen, die sich zur Welle auswachsen können.

 

Die vertane Chance

Vieles wäre vermeidbar gewesen. Nun müssen wir auf die Drittimpfungen warten. Wenn es da wieder so läuft wie beim verstolperten Start der Impfungen – und die voreilige Schließung der Impfzentren trotz zu niedriger Impfquote war ja bereits ein erster Stolperschritt –, dann drohen uns allen wieder heftige Zeiten. Nein, mir fällt da auch nichts Trostvolles mehr ein, nach dem Motto „Krise als Chance“ oder so. Die Chance hatten wir. Sie wurde aber nicht genutzt. Jetzt ist es nur noch deprimierend.