Krisentagebuch 24 – Abgesagte Premieren
Foto: Saalplan für eine "Eugen Onegin"-Vorstellung an der Wiener Staatsoper © Screenshot Wiener Staatsoper Text:Andreas Falentin, am 8. Oktober 2020
„Einschränkungen aufgrund von Coronaschutzmaßnahmen hätten die künstlerische Qualität dieses Doppelabends in inakzeptabler Weise beeinträchtigt. Aus diesem Grund wird ,Ariadne auf Naxos (Vorspiel) / Herzog Blaubarts Burg‘ in die Spielzeit 2021/22 verschoben.“
Das steht seit zwei Tagen lapidar auf der Homepage der Oper Wuppertal zur Absage ihrer künstlerisch vielleicht ambitioniertesten Produktion in der Spielzeit 2020/2021. Am Premierentermin wird eine konzertante Aufführung des „Barbier von Sevilla“ erklingen.
Aus der Distanz: furchtbar. Aber die Infektionszahlen steigen weiter, heute, am 8. Oktober, erstmals wieder über 4000. Und obwohl diese Zahl eben nur infizierte Menschen erfasst und der Anteil der tatsächlich Erkrankten unter ihnen wesentlich geringer ist (und nicht genau zu beziffern), scheint immer klarer zu werden: Eine Rückkehr zum normalen – sprich: vor Corona üblichen – Theaterbetrieb scheint zumindest mittelfristig nicht mehr zu sein als eine stetig weiter verblassende Hoffnung.
Zumal Wuppertal kein Einzelfall ist. Heute morgen verschob das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen „aus coronabedingt dispositionellem Grund“ seine für den 1. Januar geplante Uraufführung von „Fidelio schweigt“, eine Beethoven-Überschreibung von Charlotte Seither, in die nächste Spielzeit. Und man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass weitere Häuser notgedrungen nachziehen werden, national wie international. Die Canadian Opera Company in Toronto etwa hat diese Woche bereits ihre komplette Spielzeit abgesagt, wie die MET in New York ja bereits vor einigen Wochen.
Und es ist nicht nur das Musiktheater betroffen. So sagte etwa gestern das JUNGE! Staatstheater Braunschweig seine Produktion „DEMOCRISIS. (K)ein Ausweg“ ab. Der Grund hier: Die „aktuellen Abstandsregeln“ können für diese in Eisenbahnwaggons geplante Produktion nicht ohne entscheidenden künstlerischen Substanzverlust eingehalten werden.
Gesundheit, Wirtschaftlichkeit, künstlerische Qualität. Unter diesem Dreiklang Theater zu machen, wird im Moment täglich schwerer. Das eine nicht zu gefährden, das andere einzuhalten, also keine „Perlen vor die (leeren) Sitze“ zu streuen und dann auch noch das dritte, eigentliche zu ermöglichen. Wer kann das wie leisten?
Zumal einige Theater hier von gleich mehreren Seiten gebeutelt werden. Das Hessische Staatstheater Wiesbaden hat sich beispielsweise in der letzten Woche dazu durchgerungen, sein Weihnachtsstück abzusagen, weil der hierfür eingeplante große technische Aufwand mit einer verringerten Platzkapazität von unter 300 Zuschauern kaum gerechtfertigt werden kann, zumal unter den geltenden Abstandsbedingungen Schulklassen eigentlich gar nicht gesetzt werden können. Zusätzlich hat das Theater aktuell mehrere Corona-Erkrankungen zu beklagen. Nicht nur aufgrund der dadurch entstandenen dispositionellen Engpässe hat sich das die Intendanz vernünftigerweise entschlossen, bis einschließlich Sonntag zunächst sieben Vorstellungen abzusagen, darunter alle im Großen Haus.
Wie gesagt: Vermutlich wird noch mehr kommen. Noch gibt es, zumindest was den Betrieb angeht, Inseln der Seligen wie die gut gebuchte, sieben Tage die Woche spielende Wiener Staatsoper (wie der oben abgebildete Saalplan zu „Eugen Onegin“ am 28. Oktober zeigt) oder die Kölner Oper, die am Wochenende immerhin eine komplette „Zauberflöte“ mit Orchester, Live-Chor aus dem Off und Pausenbewirtung stemmte. Wenn sich aber die Zahlen weiter verschlechtern, wird es weitere Maßnahmen geben und alle Theater werden diese mit Augenmaß und aller gebotenen Vorsicht umsetzen (müssen).
Was geschehen kann, wenn man dieses Augenmaß verliert, lässt sich an der aktuellen „Tannhäuser“-Produktion der Oper Rouen aufs Schrecklichste belegen: Dort glaubte man, durch Arbeiten auf einer 200 Quadratmeter großen Probebühnen und eine wöchentliche, freiwillige Coronatest-Möglichkeit könne man dem Virus entkommen. Eine Sängerin ließ sich erst testen, als sie tatsächlich erkrankte, war positiv und hatte zu diesem Zeitpunkt bereits nachweislich einen Kollegen angesteckt. Das Haus suchte Ersatz, ohne auf die Virus-Gefahr hinzuweisen. Und die Aufarbeitung erfolgte bis heute hinter verschlossenen Türen. Ergebnis: schwer kranke Menschen und ein ruinierter Ruf von Theater und Intendant.
Sollte in Deutschland so etwas passieren, wäre der Schaden gewaltig. Und das nicht nur für ein Theater. Die Absage von Produktionen ist nie schön, aber sie dokumentiert in dieser Zeit deutlich das Verantwortungsbewusstsein der Theater für ihre Angestellten, ihre Institutionen und ihr Publikum. Und das ist, bei allem sonst wünschenswerten, nicht nur künstlerischen, Wagemut zurzeit so nötig wie selten zuvor.