NRW-Ministerpräsident Armin Laschet bei der Öffnungs-Pressekonferenz

Krisentagebuch 12 – Die Blitzöffnung der Theater

…und plötzlich ging’s ganz schnell. Wochenlang durften sich die Theater als die Stiefkinder der den Corona-Shutdown begleitenden Öffnungsdiskussion fühlen: Erst kleinere Geschäfte, dann größere Geschäfte, dann die Baumärkte, die Möbelhäuser, die Bundesliga, die Kneipen, die Strände, die Hotels, die Kirchen, die Altenheime, der Breitensport, die Friseure – alle wurden nach und nach als Kandidaten für die Lockerung des Social Distancing in Stellung gebracht. Nur die Theater nicht; die erschienen den Diskutanten aus Politik, Medien und Wirtschaft offenbar zu unwichtig dafür. Noch im Vorfeld der Schaltkonferenz des 6. Mai, in der sich die Ministerpräsidenten der Länder mit Angela Merkel auf eine nächste Stufe der Öffnung verständigen wollten, wurde kaum mit nennenswerten Ergebnissen für die Theater gerechnet .

Doch dann übergab die Bundeskanzlerin das Heft des generösen Lockerungshandelns nolens, volens an die Ministerpräsidenten, die sich in dieser Sache schon vorher ziemlich locker gemacht hatten. Und siehe da: Armin Laschet (wer sonst?!) preschte vor und entließ auch die Theater noch am selben Tag in die Freiheit. In einer Pressemeldung des Landes NRW verkündete er, dass ab 11. Mai kleinere Konzerte und andere öffentliche Aufführungen zulässig seien – mit strengen Regelungen, Mund-Nase-Bedeckung und einem von der örtlichen Behörde abgestimmten Konzept auch in Gebäuden. Und ab dem 30. Mai sei auch die Öffnung von Kinos, Theatern, Opern und Konzerthäusern „zu ermöglichen“, sofern der Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen Besuchern gewährleistet ist und es ein Zutrittskonzept gibt. Durch den verstärkten Einsatz von Ordnern seien Ansammlungen im Warte- und Pausenbereich zu verhindern.

Dazu ist vor allem mal eines zu sagen: Endlich!!! Endlich haben die Theater wieder die Chance, sich direkt und ohne mediale Vermittlung an ihr Publikum zu wenden! Das Theater in NRW ist damit nur 14 Tage später dran als die Bundesliga und mit kleinen Veranstaltungen sogar vier Tage früher als diese. In Hessen fällt der Theaterstart sogar mit dem des Fußballs zusammen. Doch gerade der Vergleich mit der Bundesliga zeigt auch den ziemlich dicken Pferdefuß der großen Lockerung. Denn zum einen kommt der Spitzenfußball ja offenbar auch wunderbar ohne leibhaftige Zuschauer klar – jedenfalls wirtschaftlich. Weshalb sich die Frage nach einem infektionshygienischen Zuschauermanagement, das den Theatern noch schwer zu schaffen machen wird, hier schlicht nicht stellt.  Zum anderen aber wird in der Bundesliga akzeptiert, dass die Akteure bei Ausübung ihres Berufs die Abstandsregeln nicht einhalten. Um hier das Schlimmste zu verhindern, wird in großem Umfang und hoher Dichte getestet. Das werden sich die Theater kaum leisten können.

Von den Theaterakteuren wird vielmehr erwartet, dass sie die Abstandsregeln einhalten. Und die dabei zuletzt in Rede stehenden Abstände haben es in sich: sechs Meter sind es laut einer „Handlungshilfe zum SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard“ der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) bei „singenden oder exzessiv sprechenden“ Menschen. In Probenräumen sind mindestens 20 Quadratmeter Grundfläche pro gleichzeitig anwesender Person nötig. Bläser bauchen bis zu zwölf Metern Abstand zur nächsten Person in Blasrichtung, in die anderen Richtungen drei Meter. Da könnte man glatt auf die Frage verfallen, ob diese „Handlungshilfe“ den Theaterbetrieb ermöglichen oder verhindern soll.

Vor diesem Hintergrund wirkt manche Öffnungs-Ankündigung dann doch recht nassforsch – auch gegenüber den Theaterleuten. Laschets Pressemitteilung etwa weist zwar auf den Schutz der Zuschauer-Gesundheit hin, die Theatermitarbeiter aber erwähnt sie nicht einmal. Laschet erlaubt den Spielbetrieb – während es Stefanie Carp, der Intendantin der vom Land NRW getragenen Ruhrtriennale, verwehrt bleibt, genau das zu versuchen, was jetzt geleistet werden muss: die Entwicklung von Spielkonzepten, die mit den Sicherheitsstandards für die Zuschauer und für die Künstler kreativ umgehen. Das erscheint durchaus möglich. Denn die VBG-Handlungshilfe lässt durchaus alternative Schutzmaßnahmen zu (Trennung durch Schutzscheiben, Mund-Nasen-Bedeckungen, flüssigkeitsundurchlässige Visiere). Und von der Charité gibt es inzwischen auf Initiative der Berliner Orchester eine Untersuchung zur Verbreitung der Aerosole im Orchester, die zu deutlich geringeren Sicherheitsabständen (1,5 Meter für Streicher, 3 Meter für Bläser) kommt.

Ja, es zeigen sich Chancen, zu spielen. Und das Land NRW hätte bei der Ruhrtriennale zumindest versuchen können, diese Chancen an exponierter Stelle auszuloten. Die Intendantin und laut ihrer Auskunft auch die Künstler wären bereit dazu gewesen, andere Theater hätten von den gewonnenen Erkenntnissen profitieren können. Doch diese Chance ist vertan. Ohnehin ist seit dem Shutdown viel zu viel Zeit verstrichen, in der sich die Kulturpolitik (dankenswerterweise!) viele Gedanken über die finanzielle Sicherung der Kultur und Künstler, aber viel zu wenige über die Öffnung der Theater gemacht hat. Aber andere Chancen bieten sich immer noch. In NRW, in Bayern, in Baden-Württemberg (wo Kulturministerin Theresia Bauer heute in wohltuender Sachlichkeit klarmachte, dass die Öffnungsperspektiven für die Theater erst noch erarbeitet werden müssen und dazu eine Initiative ihres Hauses ankündigte), in Sachsen, in Saarbrücken und sicher auch anderswo stehen Theater bereit, gemeinsam mit Ärzten, Hygienikern, Gesundheits- und anderen Ämtern Konzepte für die Öffnung der Theater zu entwickeln.

Wie das Theater dann aussehen wird und was wann wieder möglich sein wird: am 11. Mai, am 15. Mai, am 30. Mai oder am 1. September, wenn, wie NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen klarstellte, frühestens wieder ein Spielbetrieb in größeren Häusern stattfinden kann – das steht in den Sternen. Neue Untersuchungen (gerade läuft eine bei den Bamberger Symphonikern) und auch die Entwicklung der Corona-Zahlen nach der Lockerung können da schnell die Spielregeln wieder auf den Kopf stellen. Wenn es gut läuft, dann gibt es ab September wieder einen breiten Spielbetrieb mit veränderten, hygienisch angepassten Formaten und epidemiologisch disziplinierten Zuschauern, der trotz aller Einschränkungen allen Freude macht. Eine Katastrophe aber wäre es, wenn Theater zum Auslöser neuer Infektionsketten würden. Ein großer Teil des Theaterpublikums gehört zur sogenannten Risikogruppe. Wenn diese Menschen den Eindruck bekommen, im Theater riskieren sie eine Ansteckung und damit ihr Leben, dann ist das Theater tot, und zwar auf lange Zeit. Die Suche nach Corona-kompatiblen Spielformen hat spät begonnen. Das ist aber kein Grund, sie zu übereilen.