Beim Schlussapplaus nach „Niko Nikoladze“

Langer europäischer Weg

Der Heidelberger Stückemarkt 2024 bot wieder Gastspiele mit neuen Stücken, szenische Lesungen neuer Dramen, Diskussionsveranstaltungen und die theatrale Auseinandersetzung mit dem Gastland Georgien. Vor der Preisverleihung zeigte sich am letzten Tag noch einmal die zeitenüberspannende Kraft des Theaters in Georgien und die lustvolle Befragung von Macht im deutschen Gegenwartstheater.

„Unser Weg führt nach Europa“ sagt Niko Nikoladze, der georgische Publizist, Wissenschaftler und Politiker, der das Land zum Ende des 19. Jahrhunderts in Infrastruktur, Verwaltung und Wissenschaft zum Westen hin öffnete. Das Gastspiel von Levan Khetaguri, Tengiz Khukia und Elena Matskhonahvili und dem Georgian Regional Theaters Network im Zwinger des Theaters Heidelberg lässt den sterbenden Greis von seinem Leben berichten.

Dabei agieren vier Puppenspieler:innen in einem angedeuteten Fotolabor und führen die Puppe des vor 180 Jahren geborenen Mannes. Dieses biografische Theater konzentriert sich stark auf die vom Band eingespielte Erzählung, ist ästhetisch nicht unbedingt ambitioniert, belegt jedoch auch für das deutsche Publikum eindrücklich, die immense Bedeutung der Westorientierung des Landes.

„Niko Nikoladze“ Foto: Mikhail Bagatelia

Georgien, das Land, das geographisch nicht unbedingt zu Europa gehört, das seit der Antike jedoch eng mit Europa verbunden ist, drängt in die Europäische Union, wie derzeit Demonstrationen vor allem junger Menschen unterstreichen. Auf der anderen Seite, und das wurde auf der Podiumsdiskussion vor dem Gastspiel deutlich, bedeutet das derzeit verabschiedete Gesetz gegen den Einfluss des Auslands faktisch einen Wiederanschluss der ehemaligen Sowjetrepublik an Russland. Nie zuvor, so berichteten Giorgi Maisuradze und Davit Gabunia, protestierten so viele junge Menschen gegen dieses und andere demokratiefeindliche Gesetze und für den Beitritt zur Europäischen Union. Wie das derzeit laufende Ringen zwischen russlandnaher Oligarchie und europaorientierter Demokratie ausgehen wird, ist ungewiss. Auch eine russische Invasion ist nicht auszuschließen.

Im zweiten Teil des Gastspiels im Zwinger berichtet die Mutter des großen georgischen Filmregisseurs Sergo Parajanov vom Leben ihres Sohnes als Opfer von Intrigen und brutaler sowjetischer Kulturpolitik. Am Ende jedes der beiden kurzen Stücke posieren die Akteur:innen voll Ergriffenheit mit einer EU-Fahne und einer georgischen Flagge, wie schon die Ensembles der anderen Gastspiele.

Das Mädchen Europa taucht auch im letzten Gastspiel des Stückemarktes auf. Lina Beckmann zieht im Marguerre-Saal des Theaters Heidelberg anderthalb Stunden lang durch das vielstimmige Solo in der Antikenneudichtung „Laios“ von Roland Schimmelpfennig in den Bann. Die Produktion des Deutschen Schauspielhauses Hamburg ist anschließend zum Theatertreffen und den Mülheimer Stücken eingeladen. Schimmelpfennig erzählt darin die Vorgeschichte der Ödipus-Tragödie, der später seinen Vater Laios erschlagen und dann seine Mutter Iokaste ehelichen wird, nicht als runde Biografie, sondern als zweifelnde Suche nach der Wahrheit.

Lina Beckmann nimmt das Publikum mit auf eine Vergangenheitsforschung, die vergnüglich ist und dabei neben der verzwickten und grausigen Familiengeschichte der Labdakiden das komplexe Verhältnis von König und Volk beschreibt. Beckmanns kraftvolles Spiel ist eine Einladung zur Teilhabe an Geschichten und Figuren, ein uneitler Verwandlungszauber, der dem komplexen Wort Leben einhaucht.

Lina Beckmann nach getanem Solo „Laios“ zum Abschluss des Heidelberger Stückemarkts. Foto: Detlev Baur

Am letzten Tag zeigte der Stückemarkt also in ganz unterschiedlicher ästhetischer Ausprägung die Kraft des Theaters: Als Einladung von der Bühne an das Publikum, teilzuhaben an alten Geschichten, die bis in die Gegenwart hinein wirken. Und es wurde beim Blick ins Parkett und angesichts einer Rekordauslastung von 97 Prozent erneut deutlich, wie sehr der Stückemarkt ein Theaterfestival für die Stadt ist.

Dabei spiegelt das Festival, wie auch die abschließend verliehenen Preise belegten, aktuelle Entwicklungen der Theaterszene wider. Der Jugendstückepreis ging von drei Jugendlichen sorgsam begründet an „Erik*a“ von der Schauburg München, weil es einen die Jury beeindruckenden „safe space“ für queere Menschen anbietet. Der Autor*innenpreis wurde zweigeteilt: Er ging an Arad Dabiri für „Druck!“, einem Porträt der „anderen Seite der Gesellschaft“ und an das Kollektiv Frankfurter Hauptschule für das „unterhaltsame und anregende“ „2×241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger“. Mit dem SWR-Hörspielpreis wurde Leonie Ziems „Kind aus Seide“ ausgezeichnet, in dem KI keinen leichten Ausweg aus zwischenmenschlichen Zumutungen anbietet. Den internationalen Autor*innenpreis wie den Publikumspreis erhielt das Kinderstück „Wer klopft“ von Alex Chingvinadze. Der Nachspielpreis ging an David Böschs Linzer Inszenierung von Raphaela Bardutzkys „Fischer Fritz“. Das Festival war vor einer Woche mit der Uraufführung von Leonie Lorena Wyss‘ „Blaupause“, dem Gewinnerstück des Autor*innenpreises im Vorjahr eröffnet worden.