Porträt einer Frau, die seitlich nach links schaut

„Wir brauchen den Dialog. Für die harten Zeiten“

Ein Gespräch mit der Dramatikerin Sivan Ben Yishai über ihre Ibsen-Überschreibung „Nora oder Wie  man das Herrenhaus kompostiert“, einen neuen Blick auf patriarchale Strukturen und Solidarität mit marginalisierten Gruppen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wann hatten Sie zum ersten Mal Kontakt mit Henrik Ibsens „Nora“?

Sivan Ben Yishai: Ich habe das Stück so mit 13 oder 14 Jahren als Schülerin in Jerusalem gelesen. Ich habe auch eine Aufführung gesehen, ganz traditionell. Das war Anfang der 1990er-Jahre. Die Perspektive unserer Lehrerin ähnelte der von Nora, und der feministische Kampf wurde uns präsentiert als der von Frauen gegenüber ihren Ehemännern.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Zu Ibsens Zeit war das Stück ziemlich feministisch, auch wenn es damals noch gar keinen Feminismus gab: Die Frau, die ihren Mann und ihre Kinder verlässt, weil sie erkennt, dass er sie nie ernst nehmen wird, das war damals ein ungewöhnlicher Aufschlag. Ibsen thematisiert auch ökonomische Abhängigkeiten, hatte ein Gespür für Themen.

Sivan Ben Yishai: Ja. Wenn wir an unsere Mütter, Großmütter oder Urgroßmütter denken: Sie waren finanziell abhängig. Die Kernfamilie war eine Struktur, die sie von den Sorgen der Hexe am Rand der Gesellschaft befreite, die kein Geld und keinen Sex und keine Kinder hatte. Und keine Verbindung zu der Gesellschaft, in der sie lebte. Die Familie war so etwas wie die Arterie, die eine Frau mit der Gesellschaft verbunden hat.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wann haben Sie sich entschieden, sich intensiver mit dem Text zu beschäftigen?

Sivan Ben Yishai: Die Münchner Kammerspiele wollten 2022 für die „Nora. Ein Thriller“-Inszenierung von Felicitas Brucker drei zeitgenössische feministische Autorinnen, die den Ibsen-Text kommentieren. Zuerst war ich nicht sicher. Aber der Dramaturg Tobias Schuster hat gesagt: Wirf doch mal einen Blick ins Stück. Also habe ich das Buch aus meiner Kindheit geöffnet – und das Rollenverzeichnis gesehen. Das war es, das war genug. Diese Hierarchie der Präsentation und Repräsentation. Torvald Helmer an erster Stelle, und zwar achtmal erwähnt. Wie kann eine Person so oft erwähnt werden?

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Alles dreht sich um diesen Mann.

Sivan Ben Yishai: Da wird es politisch. Sogar im Rollenverzeichnis kann man Machtstrukturen erkennen: zum Beispiel Anne-Marie, das Kindermädchen. Sie ist eine alte Frau, sie war schon Noras Kindermädchen. Aber sie wird noch immer als Kindermädchen bezeichnet. Und Nora ist aufgestiegen. Nora ist der neue Boss, die Protagonistin, der Superstar. Diese Dynamik hat mich interessiert. Ich hatte auf einmal ganz viele Fragen. Wie ist es, in diesem „Herrenhaus“ zu leben? Was macht das mit einem?

Eine Darstellerin vor einem Hintergrund. Vor ihr steht ein Puppenhaus.

Florence Adjidome in der Uraufführung von Sivan Ben Yishais „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“ am Schauspiel Hannover. Foto: Kerstin Schomburg

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Würden Sie sagen, Ihr Stück ist feministisch? Oder eines über marginalisierte Personen?

Sivan Ben Yishai: Ich würde sagen, feministische Texte sprechen nie nur über, für und mit Frauen. Es geht immer um Solidarität mit anderen marginalisierten Gruppen. Mein Stück stellt eine Frage: Liebe Nora, wofür hast du gekämpft? Nur für dich selbst?

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Vielleicht ist Nora gar keine Feministin. Vielleicht geht es ihr nur um sich selbst.

Sivan Ben Yishai: Nicht jede Frau ist Feministin. Und nicht jede marginalisierte Person ist ein:e politische:r Kämpfer:in. Manchmal sind wir einfach nur Menschen. Wir müssen überleben. Manchmal sind wir unpolitische Tiere.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Das Ende mag beruhigend wirken: Nora hat sich befreit. Super. Du kannst aus dem Theater gehen und dich freuen an ihrem vermeintlich feministischen Akt.

Sivan Ben Yishai: Dabei geht es weiter: Was passiert als Nächstes?

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Elfriede Jelinek hat „Nora“ schon 1979 weitergeschrieben und auf die wirtschaftlichen und ökonomischen Aspekte aufmerksam gemacht, die Nora schließlich zurück in die Abhängigkeit von ihrem Mann treiben.

Sivan Ben Yishai: Absolut. Ich möchte ähnliche Fragen hinzufügen: Was passiert mit Singlefrauen? Mit PoC-Frauen? Mit disabled Frauen? Im Stück gibt es Christine. Sie wird vom Autor schlecht gemacht, sieht alt aus, ist schwach, traurig und einsam. Eine Frau, die nicht geliebt und anerkannt wurde von einem Mann. Sie hat keine Kinder, erfüllt nicht das Bild einer richtigen Frau.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie haben nicht nur über Nora geschrieben, sondern sich auch mit Figuren wie Iphigenie, Medusa oder Popeyes Frau Olivia beschäftigt. Sie nehmen diese Frauen und rücken Sie in ein anderes Licht, schauen neu auf ihre Geschichten.

Sivan Ben Yishai: Ich interessiere mich immer für die Kontexte, in denen wir existieren und überleben. Iphigenie ist einfach die Geschichte vor der Geschichte. Sie musste sterben für den Krieg, wurde von ihrem Vater geopfert. Was bedeutet das? Wie leben wir mit den Entscheidungen und Heldengeschichten unserer Väter? Was für eine Demokratie ist das, in der wir aufgewachsen sind als junge Frauen?        »

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Über die Jahrtausende ist es auf verquere Art zu einer Normalität geworden, dass Iphigenie geopfert wurde. Als ich Ihren Text „Das Dilemma meines Vaters (Iphigenie)“ noch mal gelesen habe, habe ich mich gefragt: Was wäre passiert, wenn Agamemnon das nicht getan hätte? Es hätte keinen Trojanischen Krieg gegeben. Eigentlich die coolere Variante.

Sivan Ben Yishai: Aber er hat den Krieg gewählt. In dieser Erzählung ist kein Platz für andere Optionen. Aber wir müssen uns in Hypothesen üben. Das sind soziale Fragen und solche der Veränderung.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Die Nora in Ihrem Stück ist keine marginalisierte Person mehr. Sie muss sich nicht sorgen, nicht gehört zu werden.

Sivan Ben Yishai: Sie ist ein Superstar, reich, hat jede Menge Bedienstete. So sieht, glaube ich, der weiße Feminismus aus: Frauen kämpfen nur für sich. Sie gehen in eine Theateraufführung über die Emanzipation von Frauen und lassen eine andere Frau ihre Küche putzen. Nora hält das System der Macht von oben am Leben. Und beschwert sich dennoch, benachteiligt zu sein. Und sobald jemand einen Nachteil zu seinem Kapital macht, bin ich als Kritikerin am Start. Das war mein Thema mit Nora: Ist der feministische Kampf, wie wir ihn kennen, zu einem Ende gekommen? Wissen wir, wann wir die Art des Kampfes verändern müssen?

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Und was ist Ihre Antwort?

Sivan Ben Yishai: Dieser Kampf kommt nie zu einem Ende. Diese Dinge sind so tief eingebettet in unsere Gesellschaft, unsere Erinnerung und unser Verständnis von Körpern, Müttern, Geschichte und Zukunft. Nora sagt: „Mein Körper ist verwundbar.“ Und natürlich hat sie recht. Aber um diese Verwundbarkeit zu verstehen, musst du nach rechts und links schauen, du musst dein Hausmädchen sehen und deine Küchenhilfe. Und dann musst du dich fragen: Wer kommt nicht vor in dieser Geschichte? Wer ist immer noch ein Opfer? Wer spricht für wen? Und für wen kämpfen wir eigentlich?

DIE DEUTSCHE BÜHNE: In „Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“ richten Sie Ihren Blick auf sexualisierte Gewalt. Medusa wurde von Poseidon vergewaltigt und in ein Ungeheuer verwandelt. Alle sehen dann nur noch das Schreckliche in ihr. Was ihr angetan wurde, ist nicht mehr als eine Randnotiz.

Sivan Ben Yishai: Ihre Geschichte ist eine von Millionen. Geschichten von gequälten weiblichen – und männlichen – Körpern. Das sind lauter Pixel, aus denen ich ein Gesicht formen wollte. Wie entstehen diese toxischen männlichen Narrative? Was wären Alternativen?

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wo sehen Sie sich in diesem -Geflecht?

Sivan Ben Yishai: Ich bin eine jüdische Frau aus Israel-Palästina. Meine Position als Immigrantin in Deutschland 2025 ist alles andere als sicher. Trotzdem, entsprechend dem, was ich über Feminismus gesagt habe, habe ich das Gefühl, noch sprechen zu können und noch Zuhörer:innen zu haben. Ich habe das Gefühl, dass es meine Aufgabe ist, ein Licht auf die zu werfen, denen es da anders geht. In Bezug auf den Krieg im Mittleren Osten auf libanesische, palästinensische und syrische Perspektiven. Wir haben genug Leute, die nur für sich selbst kämpfen. Wir haben genug Krieg. Wie können wir also intelligentere Diskurse schaffen? Ich glaube, Nora hätte für mehr sprechen müssen als ihren gebrochenen weiblichen Körper. Nicht, weil ihr gebrochener weiblicher Körper nicht wichtig ist – ich schreibe mein ganzes Leben darüber. Aber wir müssen den Blick weiten.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Donald Trump hat eine Liste mit Wörtern vorbereitet, die in offiziellen US-Dokumenten nicht mehr vorkommen dürfen. Darauf steht das Wort „Feminismus“. Da wird Sprache eingesetzt, um Ideen zu tilgen, um zu unterdrücken. Läuft gerade alles rückwärts?

Sivan Ben Yishai: Das wird sich zeigen. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Auch vor Trump gab es antifeministische Realitäten. Aber jetzt wird es laut ausgesprochen. Wir sehen eine Weltordnung, die sich verändert. Es ist ein Privileg, zu wissen, was morgen passiert. Wir haben es verloren. Und damit nähern wir uns an Gebiete in der Welt an, in denen das immer so war. Es sind entsetzliche Zeiten. Aber ich glaube nicht, dass die vorangegangenen Zeiten weniger entsetzlich waren. Es war nur weniger offensichtlich.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was können wir in diesem Bewusstsein tun?

Sivan Ben Yishai: Wir müssen kritisch bleiben und einen Weg finden, mit der Panik um uns herum umzugehen. Wir haben gesehen, dass die Demokratie und ihre Institutionen fähig sind, sich zu verteidigen, wenn die Menschen aktiv werden und lautstark und klar ihre Position vertreten.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Glauben Sie auch an das Theater als demokratisch-politische Institution?

Sivan Ben Yishai: Wir haben die Theater im Jahr 2022 gesehen. Wie solidarisch und klar sie sich zum Krieg in der Ukrai-ne positioniert haben. Und wir haben gesehen, wie überfordert sie waren mit dem Krieg in Gaza. Die Theater haben sich zurückgezogen und sind ihrer Pflicht, ein Ort des Diskurses zu sein, nicht nachgekommen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wo sehen Sie sich in diesem Diskurs?

Sivan Ben Yishai: Ich komme daher, wo das alles geschieht. Und ich werde darüber sprechen. Ich glaube, dass diese Stimmen, migrantische Stimmen aus dem Mittleren Osten, für die deutsche Gesellschaft essenziell sind, damit sie wachsen, sich verändern und transformieren kann. Manchmal ist da noch nicht genug Vokabular für all die Fragen und Dilemmata. Meine Aufgabe ist es, Worte zu finden. Und das tue ich mit Leidenschaft und Liebe für den Ort, von dem ich komme, und den Ort, an dem ich gerade lebe. Kritik ist Liebe. Natürlich gibt es Menschen, die das anders sehen und mich vielleicht nicht einladen. Aber ich habe Plätze, an denen ich sprechen kann, und ein Pu-blikum, das zuhören will. Und wir brauchen den Dialog. Für die harten Zeiten. Für weitere harte Zeiten. Weil die werden kommen.

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 3/2025.