Regisseur Kirill Serebrennikov im Jahr 2016 bei Proben in der Komischen Oper

Fast eine Hinrichtung – Zur Verurteilung von Kirill Serebrennikov

Wer hätte das gedacht? Nach der Aufhebung des zweijährigen Hausarrests Ende April 2019, nach entlastenden Gutachten und Beweisen, schien eine offizielle Rehabilitierung der angeklagten Theaterleute möglich. Doch dann folgte, nach der Rückkehr des Prozesses an ein Moskauer Bezirksgericht, der Donnerschlag des Staatsanwalts: Er forderte für den Leiter des Moskauer Gogol-Centers, Regisseur Kirill Serebrennikov und seinen Ex-Direktor Juri Itin sechs, für den Ex-Produzenten Malobrodski vier Jahre Lagerhaft. Sie hätten mit der Gründung der experimentellen Spielstätte PLATTFORM, die von 2011 – 2014 üppige Subventionen vom Kulturministerium erhielt und 340 Veranstaltungen damit produzierte, eine kriminelle Gruppierung gebildet zwecks Unterschlagung von Staatsgeldern zur persönlichen Bereicherung. Diese fatale Wende und Verdrehung der Tatsachen schreckte Kollegen und Freunde im In- und Ausland auf, die sich zu Tausenden an die neue Kulturministerin wandten. Eine Antwort blieb aus. Der ganze elende Prozess, der 2017 mit einer Klage (basiert auf Lügen der Buchhaltung von PLATTFORM) des Kulturministeriums begann, war kafkaesk, er roch nach sowjetischen Dissidentenprozessen der 1960-er Jahre, als der Dichter Josif Brodsky wegen Parasitentums, die Literaten Sinjawski und Daniel wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda zu Lagerhaft verurteilt worden waren.

Die vielen Kulturschaffenden, die am Freitag dem 26. Juni vor dem Gericht ausharrten, setzten nach der Urteilsverkündung dem erwarteten Schrecken ein erleichtertes Lachen entgegen. Die Urteile fielen mit je drei Jahren Bewährung für Serebrennikow und Itin und zwei für Malobrodski samt strikten Auflagen, relativ milde aus, die Geldstrafen für alle sind jedoch horrend: 1,6 Millionen Euro. Die mitangeklagte Sophia Apfelbaum – einst eine Verantwortliche im Kulturministerium – wurde wegen Verjährung sogar freigesprochen.

Denkenden Menschen ist klar, dass die Drahtzieher dieses Schauprozesses nicht im Kulturministerium sitzen, sondern irgendwo darüber: Schatteneminenzen, die eine öffentliche Hinrichtung an der freidenkenden, international vernetzten jungen Theater- und Kunstszene inszenieren wollten, um sie in national-orthodoxe Schranken zu verweisen –  und um Gelder einzusparen. „Experimente auf eigene Kosten!“ hatte der vorige Kulturminister Medinski, dem Serebrennikov ein Dorn im Auge war, ständig verkündet. Mächtige Drahtzieher finden stets ihre dienstbereiten Handlanger. Der Warnschuss aber saß! Der Riß zwischen Staatsmacht und Künstlern klafft heute fast wieder so, wie in vergangen geglaubten Zeiten.

Kirill Serebrennikovs Verteidigungsrede war einerseits ein Meisterstück an Klarheit – er sprach stolz über seine künstlerische Arbeit, über seine Liebe zur Heimat, gab aber zu, dass er die Buchhaltung seinerzeit nicht gebührend kontrolliert hätte. Andererseits enthüllte die Rede sein inneres Statement: Sie war als Akrostichon gebaut mit der Aussage an die Drahtzieher: „ICH BEREUE NICHTS. IHR TUT MIR LEID.“

 

Ruth Wyneken ist freie Autorin und Dozentin für Dramaturgie. Sie ist Expertin für russisches Theater und hat in Russland gelebt und gelehrt.