
Kaum Erleuchtung in Bayreuth
Foto: Isolde (Camilla Nylund) schreibt im 1. Aufzug ihr Brautkleid voll mit Textfetzen, Tristan (Andreas Schager) kniet vor ihr nieder. © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath Text:Ulrike Kolter, am 16. September 2024
Die Eröffnung der Bayreuther Festspiele bot eine düstere Neuproduktion von „Tristan und Isolde“ in der Regie des Isländers Thorleifur Örn Arnarsson. Der nahm die Anbetung der Dunkelheit durch die beiden Liebenden sehr ernst – viele Details blieben kaum erkennbar. Derweil überzeugten Camilla Nylund und Andreas Schager als Isolde und Tristan.
Seit einigen Jahren ist es nicht nur dem zahlungskräftigen Publikum, das imstande ist, persönlich zu den Bayreuther Festspielen zu pilgern, vergönnt, die jährliche Eröffnungsproduktion zu sehen. Auch Mitschnitte der traditionell am 25. Juli stattfindenden Premiere zeigt das öffentlich-rechtliche Fernsehen inzwischen am Folgewochenende und im Stream. Wagner für alle – barriereärmer geht’s für die höchste aller deutschen Hochkulturen wohl kaum.
Aber selten zuvor war der Unterschied zwischen Live-Erlebnis und medialer Aufbereitung so gravierend wie bei Thorleifur Örn Arnarssons neuer „Tristan und Isolde“-Inszenierung. Gut, schon im letzten Jahr, als der „Parsifal“ von Jay Scheib nur durch vor Ort getragene AR-Brillen so richtig in Fahrt kam, blieb dem TV-Zuschauer die letzte Ebene und damit potenzielle Erleuchtung vorenthalten. Wenn man damals in Bayreuth zu den gut 300 Brillennutzern gehörte, die durch Augmented Reality herumfliegende Baumstümpfe und andere bildgewaltige Naturzerstörung zusätzlich zur realen Bühnenhandlung sahen, war das visuell (akustisch ja sowieso) ein ganz anderer „Parsifal“ als im Mitschnitt. Entscheidender Unterschied zu diesem Jahr: Auf hell ausgeleuchteter Bühne war das Spiel von Kundry, Parsifal oder Gurnemanz erkennbar – live in Bayreuth ebenso wie am heimischen Endgerät. Beim „Tristan“ hat man das Preisen der Dunkelheit durch beide „Nachtgeweiht“-Liebenden allzu wörtlich genommen. Man muss die auftretenden Personen teils suchen im Nebel, von sichtbarer Mimik ganz zu schweigen. Und das liegt eben nicht an der gewohnt großen Entfernung zur Bühne im Festspielsaal.
Dies ist nicht nur schade, sondern geradezu tragisch: weil Camilla Nylund als Isolde und Andreas Schager als Tristan trotz sehr unterschiedlicher Stimmfarben eine Traumbesetzung sind und kraftvoll harmonieren. Weil das Dirigat von Semyon Bychkov zu Recht bejubelt wird für seine extrem Akzente setzenden Tempi. Und weil Arnarsson die Gretchenfrage jeder „Tristan und Isolde“-Interpretation schlüssig beantwortet, nämlich die nach der Notwendigkeit eines Liebestrankes.
Zur Frage des Liebestrankes
Glaubt man überhaupt an den Mythos einer chemisch induzierten Liebe, die binnen Sekunden über Tristan und Isolde hereinbricht? Während ihr Schiff im Hafen von Cornwall einläuft, um Isolde eigentlich ins Eheleben mit König Marke zu überführen? Falls ja, wäre der spätere Ehebruch zwar moralisch entschuldbar, weil ja trankfremdbestimmt, aber der Liebestod beider wohl trotzdem unausweichlich. Glaubt man – wie Arnarsson – nicht an die Wirkung dieses Minnetrankes, der in Gottfried von Straßburgs „Tristan“-Vorlage noch ganz zentral, bei Wagner dann keineswegs mehr notwendig ist, weil beide schon verliebt sind, braucht es eine andere Setzung. Und die sucht der Isländer in der traumatischen Vorgeschichte von Tristan und Isolde.
Einen Liebestrank wollen die beiden gar nicht, quälen sich lieber durch die Erinnerung an das Nichtwiederbringliche – an jenen Moment in Irland, als Isolde im verwundeten Tantris den Mörder ihres Verlobten erkennt, sich dennoch in ihn verliebt, ehe sie ihn ziehen lässt. Schön war’s, vorbei leider, und das wissen beide. Was bleibt, ist ein großes Konglomerat aus Sehnsucht und Rachegelüsten, das in dieser Produktion weniger szenisch denn musikalisch versinnbildlicht wird. Nylund als stolze Isolde und Schager als zutiefst an sich selbst leidender Tristan versetzen das Publikum spätestens ab dem zweiten Aufzug in Ekstase.
Vergangenes ist vergangen
Zunächst aber beginnt alles nebeldüster und statisch. Kurwenal (ausdrucksstark und deutlich: Olafur Sigurdarson), der junge Seemann (glockenhell: Matthew Newlin) und teils auch die Brangäne der süßlich-dunkel timbrierenden Christa Mayer sind kaum mehr als Schachfiguren, bewegt für einen kurzen Zug nur und sonst im Hintergrund postiert zwischen herabhängenden Segeltauen. Es geht ja ums Innen, nicht um irgendeine Außenwelt, trotzdem wünscht man sich den Lichtschalter.
Optisch durchzieht das psychologisierende Stochern im Dunkel der Vergangenheit alle Aufzüge (Bühne: Vytautas Narbutas, Kostüme: Sibylle Wallum). Während Isolde anfangs noch ihr meterweit im Kreis ausgebreitetes Brautkleid tagebuchartig mit Wortfetzen beschreibt (Wagners Librettotext entziffert man kaum), nachliest, sich zu erinnern scheint, führt uns der zweite Aufzug ins Innere eines riesigen, löchrigen Schiffsbauches, vollgestopft mit halb kaputten Relikten: alte Statuen und schief hängende Bilder, Papierstapel und kaputte Fischernetze. Vergangenes, nutzlos geworden, da hilft alles Wühlen und Suchen nichts.
In diesem Chaos fleht Tristan mit ausgestreckten Armen Isolde um den tötenden Schwertstoß an, den sie ihm verwehrt. Zum „So stürben wir, um ungetrennt …“ knien beide dann voreinander nieder, den bis dato gewahrten Abstand nur langsam in eine Umarmung auflösend. Bis König Marke hereinplatzt, den Günther Groissböck mit großer Wut gibt. Zu Boden stößt er Tristan, nichts ist geblieben vom väterlichen Freund. So suizidiert sich Tristan mit einem schnellen Schluck Todestrank und lässt Melot (Birger Radde) nur zusehen, statt sich ihm ins Schwert zu werfen. Das ist konsequent in der mehrfach angedeuteten Labilität Tristans, aber wie innig es ausgespielt wird, eher emotional denn physisch – das kann man auf der Bühne nur erahnen, im Stream erst erfassen.
Musikalische Ekstase
So bleibt dieser Abend vor allem ein musikalischer Schmerzgenuss. Durch das akzentuierte Dirigat Semyon Bychkovs, der fast quälend langsam beginnt, die Partitur in filigrane Fäden zu spinnen weiß und Pianissimi setzt, die nur in diesem Festspielhaus so schweben können, wenn das unfassbar undisziplinierte Publikum endlich ruhig ist. Durch die Sängerdarstellung der in allen Registern frei klingenden Camilla Nylund. Und durch einen Tristan-Darsteller, der auf seinen physischen Grenzen tanzt, ohne je die Kontrolle zu verlieren – mit metallischem Glanz und schier endloser Power für diese Partie, bis ins grenzwertig Rauchige im finalen Sterben.
Trotzdem bleibt man merkwürdig unberührt zurück. Bravi und ein lautstark tobendes Publikum für die Soli, verhaltene Buhs für das Regieteam. Die „Werkstatt Bayreuth” sollte am Lichtkonzept von Sascha Zauner nachjustieren, denn ein Stream darf nicht ernsthaft zur Alternative werden.
Ulrike Kolter fährt seit einigen Jahren zu den Bayreuther Festspielen. Ihre liebste Inszenierung war 2010 der Ratten-„Lohengrin” mit Jonas Kaufmann, inszeniert von Hans Neuenfels.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 5/2024.