Antisemitismus und Theater

Die Regisseurin Sapir Heller ist in Israel aufgewachsen, seit ihrem Regie-Studium in München lebt sie in Deutschland. Unsere Autorin Anne Fritsch hat sich mit ihr über die Antisemitismus-Vorwürfe gegen Wajdi Mouawads Stück „Vögel“ am Münchner Metropoltheater unterhalten, über nötige Kritik am Staat Israel, das Leben als israelische Jüdin in Deutschland, die Wichtigkeit des Dialogs und darüber, wie das Theater auf solche Debatten reagieren kann und sollte.


DIE DEUTSCHE BÜHNE:
Warum haben Sie sich mit 19 für ein Leben in Deutschland entschieden?

Sapir Heller: Eigentlich wegen der Liebe, ich hatte einen deutschen Freund. Dazu kam aber, dass ich in Israel nicht zum Militär gegangen bin. In Israel gilt eine allgemeine mehrjährige Pflicht zum Militärdienst, und es ist gar nicht leicht, zu verweigern. Das endet meist mit Gefängnis oder man braucht wirklich einen sehr guten Grund. Für mich waren aber die gesellschaftlichen Konsequenzen am härtesten, meine Entscheidung wurde damals überhaupt nicht akzeptiert, weder von meiner Familie noch von meinen Freunden. Darum hatte mein Gehen etwas von einer kulturellen Flucht.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie haben Sie als Jüdin Ihr Ankommen in Deutschland erlebt?

Sapir Heller: Ich habe mein Judentum in Deutschland viel stärker wahrgenommen als in Israel. Ich kam aus keinen religiösen oder historischen Gründen. Alles, was ich anfangs an der Uni und in Sachen Regie gemacht habe, hatte mit dem Judentum erstmal nichts zu tun. Ich habe dieses Thema nicht gesucht, aber es hat mich gefunden. Ich laufe auf der Straße und sehe Geschichte, frage mich, wer in den Gebäuden gewohnt hat… Da kamen auf einmal so Fragen, die ich aus Israel gar nicht kannte. Die Straßen hier sind voll mit jüdischen Geschichten, nicht nur in Bezug auf den Holocaust. Jüdische Geschichte ist ja viel mehr als das. Ich habe immer das Gefühl, dass ich das betonen muss.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: In Deutschland ist das Thema einfach so dominant, weil auf dem ganzen Land eine so große Schuld lastet. Das ist das erste, woran man immer denkt.

Sapir Heller: Ich habe auch von vielen Menschen gehört, dass ich die erste Jüdin bin, die sie bewusst getroffen haben. Viele kennen das Judentum nur aus den Geschichtsbüchern. Da ist immer sehr viel Betroffenheit oder aber eine extreme Sachlichkeit, die gar kein Gefühl zulässt. Das ist alles, was sie kennen. Und das finde ich extrem schade.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: In der Schule setzt der Geschichtsunterricht ja auch erst da ein, wo das jüdische Leben in Deutschland aufgehört hat und von den Nazis zerstört wurde.

Sapir Heller: Das ist total spannend, aber es stimmt. Die Geschichte der Juden fängt in der Schule da an, wo sie schon tot sind. Und dem will ich etwas entgegensetzen. Auch wenn ich nicht besonders religiös bin: Für mich ist das Judentum Teil meiner Kultur, ich feiere die jüdischen Feiertage, wir machen mit der Familie und nicht-jüdischen Freunden Schabbat-Essen… Ich liebe diese Bräuche und auch die hebräische Sprache. Das ist mir wichtiger als der Bezug zu Gott. Ich will diese Traditionen leben und weitergeben. Was ich allein alles mache in dem Kindergarten von meinen Kindern, damit die Kinder Judentum anders kennenlernen. Zum Beispiel bringe ich traditionelle Kekse für alle mit. Ich finde es besser, wenn sie Judentum erstmal mit Keksen verbinden, nicht mit Gaskammern.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Damit es auch eine gewisse Normalität im Alltag bekommt.

Sapir Heller: Ja, denn jüdische Geschichte ist schon lange davor ein Teil der deutschen Geschichte.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wobei es ja auch schon vor dem Dritten Reich eine Geschichte regelmäßiger Pogrome und Gewaltausbrüche ist.

Sapir Heller: Das ist ja ein weltweites Phänomen. Juden haben schon immer unter Diskriminierungen gelitten. Die Menschen haben vor dem Fremden oft Angst und wehren sich. Da kommen so Abwehraktionen zustande, die häufig zu Gewalt führen. Das müssen wir alle in uns ändern: Etwas Fremdes ist ja eigentlich etwas Schönes. Man muss keine Angst vor dem Unbekannten haben, sondern akzeptieren, dass Leute verschieden sind. Mich stört zum einen die Reduzierung des Jüdischen auf den Holocaust, zum anderen, dass Leute das Gefühl haben, sie kennen ein Bild von „einem Juden“. Tatsächlich existieren ja zig Millionen verschiedene Individuen, Spaltungen innerhalb des Judentums, unterschiedliche Glaubensrichtungen und Ideologien…

DIE DEUTSCHE BÜHNE: War es für Ihre Familie ein Problem, dass Sie ausgerechnet nach Deutschland gegangen sind?

Sapir Heller: Nein, überhaupt nicht. Zur Geburt meines Sohnes ist meine ganze Familie gekommen, inklusive meiner Oma, die selbst eine Holocaust-Überlebende aus der heutigen Ukraine ist und zum ersten Mal in ihrem Leben in Deutschland war. Sie sagte: „Dieses Kind ist ein Kind der Hoffnung.“ Wir saßen da alle zusammen, vier Generationen, plus Freunde, jüdisch, nicht-jüdisch, es war vollkommen egal. Dass alle da waren und zusammen die Geburt eines deutsch-israelischen Kindes gefeiert haben, das war sehr berührend. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob es genauso akzeptiert worden wäre, hätte mein Bruder ein Kind mit einer nicht-jüdischen Frau bekommen. Das Judentum wird über die Mutter weiter gegeben. Meine Kinder sind also für meine Familie Juden.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Damit sind wir ja fast bei dem Stück „Vögel“, wo das Problem darin besteht, dass der jüdische Sohn eine Beziehung zu einer arabischen Frau hat.

Sapir Heller: Dieser Konflikt ist total realistisch! Ich würde behaupten, dass ein Großteil der israelischen Bevölkerung ein Problem mit so einer Beziehung hätte. Ich bin mir sicher, dass es ein Problem gegeben hätte, wenn mein Freund ein Palästinenser wäre. Das muss jetzt gar nicht um eigene Feindbilder gehen. Viele würden einfach nicht wollen, dass ihr Kind in der israelischen Gesellschaft leidet. Und so eine Beziehung in Israel zu führen, heißt: leiden. Sie wird nicht akzeptiert.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie haben sich zur Antisemitismus-Debatte geäußert mit dem Aufruf „Boker Tov, Eliyahu!“, ein hebräischer Weckruf. „Wacht auf. Diskutiert über das Thema, macht darüber Theater, Musik, Kunst. Macht. Weil es brennt.“ – Was brennt Ihnen besonders unter den Nägeln?

Sapir Heller: Ich bin nicht hier, um dieses Stück zu verteidigen, ich finde es ehrlich gesagt ein bisschen kitschig. Aber darum geht es hier nicht. Jemand hat sich verletzt gefühlt bei der Aufführung, was ich respektiere. Ich schätze auch, dass das ausgesprochen wird und dass es Diskussionen darüber gibt. Was ich dagegen nicht schätze – und das ist es, was brennt – ist, dass Diskussionen blockiert werden. Wofür machen wir denn Kunst? Um Fragen zu stellen, um zu diskutieren. Genau das wurde blockiert mit dem Stempel „Antisemitismus“. Es gibt hier wichtige gesellschaftliche Fragen: Was ist Antisemitismus? Haben wir versteckten Antisemitismus in unseren Köpfen, in unserer Sprache oder unserem Verhalten? Ist Israel-Kritik direkt auch Antisemitismus? Das alles sind Themen, über die man sprechen soll. Und Theater ist ein Ort der Diskussion. Im besten Fall endet eine Aufführung nicht mit dem Applaus, sondern gibt Fragen mit auf den Weg. Wenn diese Gespräche blockiert werden, ist es Zensur, und das ist genau das Falsche.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Da spielt immer auch die angesprochene Verbindung zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik mit hinein. Für mich ist beides nicht komplett gleichzusetzen, natürlich gibt es eine Schnittmenge, aber Antisemitismus gibt es auch losgelöst und sehr viel länger als Israel – und eine Kritik an der Politik Israels muss auf der anderen Seite kein Antisemitismus sein.

Sapir Heller: Diese Vermischung ist eines der größten Probleme heute. Es gibt Leute, die der israelischen Politik kritisch gegenüberstehen. Wenn sie das aber mit Judentum vermischen, wird es antisemitisch. So lebe ich. Welcome to my life. Ich werde ganz oft kritisiert, allein weil ich aus Israel bin. Ohne dass jemand hören will, was meine Geschichte oder meine Ideologie ist. Manche Leute blockieren, dass israelische Künstler überhaupt eine Bühne bekommen. Und dann frage ich mich schon, ob es wirklich darum geht, dass ich aus Israel bin. Würden sie das gleiche machen, wenn ich eine Palästinenserin aus Israel wäre? Also israelische Staatsbürgerin, aber muslimische Araberin? Und meine Antwort ist oft: nein. Da wird es eben antisemitisch. Aber dass man kritisch dem Staat gegenüber sein muss – nicht kann, sondern muss – ist eine Bedingung für Demokratie. Für mich ist es schwer, wenn Sachen auf mich projiziert werden, weil ich aus Israel komme. Ich werde oft gleichgesetzt mit der Regierung, obwohl ich das überhaupt nicht unterstütze. Auf der anderen Seite haben Leute oft Angst, sich kritisch zu äußern, um nicht diesen Antisemitismus-Stempel zu bekommen. Die Lösung für beides ist, zu verstehen, dass Judentum und Israeli-Sein zwei verschiedene Sachen sind. Es gibt viele Israelis, die nicht jüdisch sind, und es gibt sehr viele Juden, die mit Israel nichts zu tun haben. Und natürlich gibt es auch die Schnittstellen. Aber es ist wahnsinnig komplex.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wenn Sie selbst Antisemitismus erleben, bezieht der sich dann meist auf Israel?

Sapir Heller: Es gibt mehrere Arten von Antisemitismus. Den mit Israel verknüpften, den ich zum Beispiel als Reaktion auf meinen Brief aus Israel, den ich 2021 für die Deutsche Bühne geschrieben habe, erfahren habe. Mein Brief war keine politische Stellungnahme, sondern ein persönlicher Erfahrungsbericht. Ich habe viele empathische Rückmeldungen bekommen, aber auch echte Hasskommentare, die mir große Angst gemacht haben. Ich habe mich wirklich gefürchtet, zurück nach Deutschland zu kommen. Aber es gibt auch den Antisemitismus, der gefühlt von alten Nazi-Karikaturen geprägt ist. Als ich das erste Mal schwanger war, habe ich einen Brief von einer Freundin aus Deutschland bekommen, die uns davon abgeraten hat, unserem Kind einen israelischen Namen zu geben. Sie hat Gründe aufgelistet wie „die AfD wird stärker, wer weiß, was ihr dem Kind antut“. Aber dann ist auch so ein Satz gefallen wie „er wird sich deutsch fühlen wollen und das wird nicht gehen, wenn er so einen Namen hat, besonders wenn er die schwarzen Haare und Augen von Sapir bekommt“. Das ist nicht anders zu lesen als antisemitisch. Die „schwarzen Augen“ – das ist nur auf das Judentum und alte Bilder bezogen. Das hat mich sehr erschreckt, dass sie das in mir gesehen hat. Mein Mann und ich hatten eine Liste mit deutschen, israelischen und internationalen Namen – und nach diesem Brief haben wir alle nicht-israelischen Namen gestrichen. Für mich war klar, ich muss ein Zeichen setzen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was würden Sie sich wünschen?

Sapir Heller: Dass die Leute kurz innehalten, bevor sie etwas sagen oder eben schreiben. Dass man sich traut, Fragen zu stellen. Dass man die eigenen Gedanken hinterfragt. Wenn wir die ersten Bilder, die uns durch den Kopf springen, auf die Bühne bringen, dann haben wir eine Sammlung von Klischees, die wir nicht reproduzieren wollen. Diese Bilder haben wir alle in uns. Wenn wir einen Namen hören oder einen Akzent, öffnen sich bei jedem von uns ganz viele Schubladen. Die Frage ist nur, wie schnell kann ich sie wieder zumachen?

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Oder hineinschauen, was wirklich drin ist…

Sapir Heller: Ja, das ist noch besser. Das ist für mich der große Spaß am Theater. Ich will den Finger tief in die Wunde stecken, in der Scheiße wühlen. Das ist wie eine Art Therapie, die ich gemeinsam mit meinem Team und im Idealfall mit dem Publikum mache.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Eine Art Gesellschaftstherapie?

Sapir Heller: Genau.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Gerade inszenieren Sie „Bomb“ von Maya Arad Yasur am Theater Lübeck. Auch ein Stück, das sich mitten in den Konflikt wagt, in einen Krieg. Warum haben Sie dieses Stück ausgewählt?

Sapir Heller: Das Stück heißt im Untertitel „Variationen über Verweigerung“, was natürlich schon sehr mein Thema ist. Es geht um Luftangriffe. Die Autorin nutzt drei verschiedene Perspektiven auf das Thema: der Pilot, der das Flugzeug steuert; das Kind, das die Angriffe miterlebt; und die Künstlerin, die sie in Kunst umwandelt. Persönlich kenne ich alle drei. Die Seite der Angreifer aus Israel, die Perspektive des Kindes, das den Krieg in einer ohnmächtigen Position erlebt, und natürlich auch die der Künstlerin. In diesem Stück gibt es kein Richtig und Falsch. Es geht um eine traumatisierte Gesellschaft, alles hängt zusammen. Trotzdem ist der Text sehr humorvoll, was die Auseinandersetzung mit dem schweren Thema total erleichtert. Das ist ja auch in Arad Yasurs Stück „Amsterdam“ so: Durch den Witz kommt man genau an die Punkte, die am meisten schmerzen. Das fordert eine Auseinandersetzung heraus, das Publikum fragt sich selbst, kann ich hier überhaupt lachen? Darf ich das? – Und genau diese Auseinandersetzung ist durch die Absetzung der „Vögel“-Inszenierung unmöglich geworden.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Beeinflussen diese ganzen Debatten Sie in Ihrer Arbeit?

Sapir Heller: Nein, gar nicht. Ich möchte nicht anfangen zu inszenieren mit Verboten in meinem Kopf. Wir müssen ohne Angst über alles sprechen können. Nur dann können wir Dinge gemeinsam verarbeiten. Vielleicht habe ich es in dem Antisemitismus-Kontext ein wenig einfacher, weil ich Jüdin bin. Es kann schon sein, dass Menschen, die nicht jüdisch sind, jetzt extra vorsichtig sind.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Das ist ja das eigentlich Schlimme, welch große Kreise das zieht. Der kleinste ist noch, ob jemand sich in Zukunft trauen wird, die „Vögel“ zu inszenieren. Wieviel Selbstzensur wird es geben? Und wie wird mit anderen Stücken umgegangen, die sich mit den Themen Nahost-Konflikt beschäftigen? Wer wagt sich da noch dran?

Sapir Heller: Ich fände es so schade, wenn solche Themen nicht mehr oder nur noch von Juden inszeniert auf die Bühne kämen. Wenn man ein Thema verschweigt oder verdrängt, bleibt es bestehen. Das muss auf die Bühne kommen, sonst können wir als Gesellschaft das nicht verarbeiten. Da erreicht dieser Verband jüdischer Studenten in Bayern, der dafür gesorgt hat, dass das Stück in München abgesetzt wurde, das Gegenteil von dem, was er will. Denn so verschwindet Antisemitismus nicht, so wird er verstärkt. Nicht zu diskutieren, das ist für mich das Gegenteil von Judentum.