Foto: Lene Grösch © Konrad Fersterer
Text:Wolfgang Reitzammer, am 13. November 2025
Schauspieldirektorin Lene Grösch steht in „Weißes Kaninchen, rotes Kaninchen“ von Nassim Soleimanpour am Staatstheater Nürnberg selbst auf der Bühne. Der Clou des Stücks: Die spielende Person erhält erst zu Beginn der Veranstaltung den Text in einem versiegelten Umschlag. Ein Experiment, das in jedem Fall überrascht.
Es ist eine Art blind date, allerdings mit einem Text. Der Text stammt vom iranischen Autor Nassim Soleimanpour, er wurde 2010 unter dem Umstand geschrieben, dass Soleimanpour den Wehrdienst verweigerte und ihm die Ausreise aus dem Iran verweigert wurde. Seitdem haben weltweit viele (vor allem) Schauspieler:innen diesen Text als spontanes Theater-Experiment vorgetragen. Denn die Vorgabe lautet strikt: der Akteur auf der Bühne erhält den Text in einem versiegelten Umschlag, er darf ihn nicht vorher lesen und nur einmal performen! Es gibt keine Probe, keine Regie, kein Bühnenbild. Daher ist es notwendig, das Geheimnis des Inhalts aufrechtzuerhalten, um auch künftige Aufführungen zu ermöglichen und die unwissende Rolle des Vortragenden zu garantieren. Diesem unausgesprochenen Schweige-Bündnis fühlt sich auch der Verfasser dieser Theaterkritik verpflichtet.
Wovon sprechen wir dann überhaupt? Zunächst einmal hat Nürnbergs neue Schauspieldirektorin Lene Grösch gewagt, bei der „Premiere“ den unwissenden Vorleser-Platz auf der Bühne einzunehmen – in den bisher geplanten drei Folgeterminen sind die Tänzerin und Tanztheaterproduzentin Susanna Curtis, der Besteller-Autor Ewald Arenz sowie die Drag Queen Roxy Rued besetzt worden – eine schillernde Mixtur und eine Garantie für das Motto „Lass dich überraschen!“
Fabelhafter Nonsens und existenzielle Fragestellungen
Der Abend beginnt mit einer Erläuterung der Spielregeln durch Chefdramaturg Harald Wolff, dann betritt Lene Grösch die Bühne, die nur aus Stuhl, Tisch mit zwei Wassergläsern, einer Leiter und einem Plastik-Flamingo besteht. Auf dem Tisch liegt der verschlossene Text, der nun geöffnet wird. Ab jetzt ist Lene Grösch nur noch die ahnungslose Stimme (und auch Befehlsempfängerin) von Nassim Soleimanpour. Zunächst wird wie bei einer Klassenfahrt mit dem Bus das Publikum durchgezählt: 148 Besucher haben sich in den Kammerspielen versammelt. Einige von ihnen werden im Lauf der nächsten 70 Minuten auf die Bühne gebeten, was dem Ganzen einen Hauch von Impro-Theater verleiht.
Ein Platz ist frei geblieben für den Autor, der 2013 ausreisen durfte und derzeit in Berlin (und damit in der Freiheit) lebt. Über den Inhalt des Lese-Textes nur so viel: er bewegt sich auf einer Gratwanderung zwischen fabelhaftem tierischem Nonsens und existenziellen Fragestellungen, eine Bandbreite, die Heiterkeit, aber auch Betroffenheit aufkommen lässt.
Experimentelle Idee
Die Situation für das Publikum ist nun – bis auf die Mitmach-Aufforderungen – gar nicht so außergewöhnlich: normale Besucher einer Uraufführung eines zeitgenössischen Stückes dürften eher selten vorher den Text gelesen haben. Das Gefühl des Nicht-genau-Wissens, was auf einen zukommt, ist im Theater durchaus häufig gegeben. Anders aber die Situation für die Schauspieldirektorin: ihre berufsspezifische Rolle ist es eigentlich, alle Stücke, die im Spielplan der nächsten Saison vorkommen sollen, vorher zu lesen. Es kann aber zur Beruhigung gesagt werden, dass sie als „Schauspielerin“ ein überschaubares Risiko eingegangen ist und die Aufführung im wahrsten Sinne des Wortes gut überlebt (!) hat.
Am Ende leert sich – wie vom Autor vorgesehen – (fast) ohne Beifall der Besucherraum, auf der Bühne liegt eine schweigende Sprecherin, und die Zuschauer können auf jeden Fall behaupten, ein Theaterstück gesehen zu haben, das es in dieser Form nie wieder geben wird! Die experimentelle Idee ließe sich durchaus noch ausweiten: Wie wäre es, wenn Bundeskanzler Merz eine ihm unbekannte Silvesteransprache, geschrieben von Jan Böhmermann, vortragen müsste? Oder wenn der VW-Vorstandsvorsitzende Oliver Blume bei der nächsten Aktionärs-Versammlung einen geheimen Text von Heidi Reichinnek vorlesen müsste? Lassen wir uns doch öfter mal überraschen!