Paul Trempnau. Marco Matthes, Jenny Weichert, Nathalie Thiede und Tara Helena Weiß stehen nebeneinander in einer Reihe. Sie alle schauen in Richtung von Andrea Strube, die die Vorhut bildet.

„Wollt Ihr uns verarschen?“

Ivana Sokola: Wir Perser

Theater:Deutsches Theater Göttingen, Premiere:25.10.2025 (UA)Autor(in) der Vorlage:AischylosRegie:Branko JanackMusikalische Leitung:Max Nübling

Das Deutsche Theater Göttingen liefert mit der Uraufführung von Ivana Sokolas Stück „Wir Perser“ neue Perspektiven auf Aischylos‘ Tragödie. Dabei spielen aktuelle Probleme wie Nachrichtenüberflutung, Falschinformationen, politische Teilhabe oder auch die Wehrpflichtdiskussion eine Rolle. Regisseur Branko Janack bringt den Stoff auch auf räumlicher Ebene nah ans Publikum heran.

Warum wurden die Perser vernichtend geschlagen? Waren es die Wassermassen, die sie beim Überqueren des Bosporus in die Tiefe zogen? Oder ließen sie sich aus Angst vor den Griechen verzweifelt ins Meer fallen? Vielleicht war es auch die fehlende Moral? Oder Feigheit? Jeder Bote aus dem Kriegsgebiet bringt eine neue Erklärung mit, warum das stolze Heer der Perser vernichtend geschlagen wurde. Bis es aus Königin Atossa (stark: Andrea Strube) wütend herausbricht: „Wollt Ihr uns verarschen?“ Bei der fast 2500 Jahre alten Vorlage von Ivana Sokolas Stück „Wir Perser“ war die Sache noch eindeutig. Bei Aischylos kommt nur ein Bote. Jetzt bekommen die Zurückgelassenen, die Alten, Frauen, Kinder jede Menge Informationen – doch welcher sollen sie vertrauen?

Nah am Publikum

Der alte Stoff springt mitten in unsere Gegenwart von Social-Media-Durcheinander und Nachrichtenüberflutung. Die Boten sind sauer: Keiner glaube ihnen mehr. Journalismus in der Krise, der sein Publikum beschimpft. Sie zeigen direkt auf uns, die Zuschauenden im Saal. Branko Janack (Regie) holt die gesamte Inszenierung nah ran. Er lässt Heerführer Xerxes (intensiv: Paul Trempnau) über die Lehnen der Sitzreihen auf die Bühne klettern. Moïra Gilliéron (Bühne und Kostüm) hat dem Raum jede Tiefe genommen. Eine Wellblech-Wand verschließt den Guckkasten, immer mehr Wasser flutet die kleine Spielfläche, wird als Licht an die Wand reflektiert.

Im Vordergrund liegt Paul Trempnau auf dem nassen Boden. Um ihn herum spritzt Wasser in die Höhe. Hinter ihm ist der Rest des Ensembles aufgereiht und schaut ihm dabei zu.

Auf der Bühne von Moïra Gilliéron spritzt das Wasser die Wände hoch. Foto: Thomas Aurin

Das Publikum ist Teil des Stücks: die Masse, die zuschaut, zuhört, die widerstreitenden Informationen verarbeiten muss und merkt, wie sie daran scheitert. Auch die Frage nach der Macht, den Chancen auf Veränderung durch einen Krieg wird gestellt. Während Atossa bei Aischylos eine besorgte Mutter ist, wird sie bei Sokola zur Herrscherin, die neue Wege geht. Sie rühmt sich. Seit ihr Sohn Xerxes im Krieg ist, sei alles besser. Die Straßen wären sauberer. Selbst „der Fleischkonsum“ sei zurückgegangen. Grotesk witzig bricht Sokola die Ernsthaftigkeit des Stücks immer wieder auf und vermeidet so vermeintliche Eindeutigkeit. Auch Atossa ist nicht die heilsbringende Matriarchin. Die Musik (Max Nübling) unterstützt das – kontrastiert Trauer mit schwülstigen Liebesliedern oder dröhnt übertrieben dramatisch.

Nah an der Realität

Und das Volk? Die fünf Schauspielenden sprechen mal wie im Chor der griechischen Tragödie, mal einzeln. Wären sie bereit, die Macht zu übernehmen, eine Demokratie zu wagen? Oder heulen sie einfach nur rum, wie schrecklich alles ist? Das wird wunderbar dargestellt zu Beginn, als sie so übertrieben schluchzen und sich in die Arme fallen. Man kann nur lachen und merkt gleichzeitig mit Schaudern, dass unsere Gesellschaft in vielen Bereichen doch gerade so tickt. „Wir Perser“ macht etliche Bezüge zur Gegenwart auf, so viele, dass einem schwindlig werden kann: Demokratie-Müdigkeit, Wehrpflichtdiskussion („Wärst Du bereit, für Dein Land zu sterben?“), Medienkritik, Ideologie des starken Mannes (Xerxes). Ukraine, Gaza, Trump, Putin, Fake News – nichts wird direkt benannt, aber alles schwingt in unseren Hirnen mit. Denn „Wir Perser“ sind mittendrin im Krieg, auch wenn wir meinen, nur von außen zu beobachten.