Foto: Western auf der Baustelle. © Oliver Voigt
Text:Gunnar Decker, am 5. Oktober 2025
André Nicke inszeniert an den Uckermärkischen Bühnen Schwedt Erik Neutschs „Spur der Steine“ als Musical. Dabei lässt er sich sowohl vom Roman selbst als auch von der Verfilmung Frank Beyers aus dem Jahr 1966 inspirieren, die lange verboten war. Ein Abend zwischen ernster Erinnerung und befreiendem Lachen.
Auf achthundert Seiten in „Spur der Steine“ sabotiert Erik Neutsch den Bitterfelder Weg, indem er ihm die absurde Krone aufsetzt. 1959 wollte die erste „Bitterfelder Konferenz“ unter dem Slogan „Greif zur Feder, Kumpel!“ Arbeiter und Schriftsteller zusammenbringen – auf den Großbaustellen des Sozialismus. Neutsch schrieb daraufhin seine „Bitterfelder Geschichten“, die aber niemand lesen wollte, was ihm eine Warnung war. Zu viele positive Helden der Produktion, wie langweilig. Wenn er nun einen dicken Roman über die Großbaustelle Schkona schreiben sollte, dann musste er unterhaltsam sein. Der Vorzeigearbeiter Balla durfte kein glatter Vorzeigearbeiter sein, sondern wäre besser ein notorischer Anarchist. Nur immer Arbeit und Bestleistungen funktionierten nicht.
Zu einem Bestseller gehörten auch im Sozialismus verwickelte menschliche Beziehungen. Am besten eine Frau zwischen zwei Männern, die sich nicht entscheiden können. Wieviel privates Glück ist möglich? Das war die Frage der zweiten Bitterfelder Konferenz von 1964, die das ursprüngliche Konzept ad acta legte. Und wie zufällig hatte Neutsch den passenden Roman dazu parat. Wenn er nicht verboten wird, dann hat er einen Bestseller. Zum Glück schützen Neutsch mächtige Freunde, so der Hallenser SED-Sekretär Horst Sindermann.
Also bringt er die Ingenieurin Katrin Klee auf die Baustelle und den Parteisekretär Horrath dazu, mit dem sie ein Verhältnis hat. Sie bekommt ein Kind von ihm und er bekennt sich nicht nur nicht zu ihr, sondern setzt sie sogar Verhören über die Moral auf der Baustelle aus. Ein feiger Lügner, dabei irgendwie menschlich – das soll der Abgesandte der herrschenden Partei auf einer sozialistischen Großbaustelle sein? Es gab heftige Leserdiskussionen dazu (ein Novum in der DDR), die aber in das Jahr 1964 passten, in dem vieles möglich war. Neutsch bekam sogar den Nationalpreis für „Spur der Steine“, wenn auch nur dritter Klasse. Schon ein Jahr später beendete eine neue Eiszeit dieses kurze Tauwetter. Auch Frank Beyers legendäre Verfilmung von „Spur der Steine“ wurde 1966 umgehend verboten.
Aus persönlicher Sache
Wir sind mit diesem Stoff mitten drin in einem der aufregendsten Abschnitte der DDR-Geschichte, von dem „Spur der Steine“ erzählt. Wer hat eigentlich die Macht im Arbeiter-und-Bauern-Staat? Die Arbeiter oder die Funktionäre? Die Dabeigewesenen beschäftigt die Frage, die damals erstaunlich offen diskutiert wurde. Auch André Nicke, Regisseur dieser Inszenierung und Intendant der Uckermärkischen Bühnen Schwedt nimmt sie ernst. Vor Beginn der Vorstellung tritt er vor den Vorhang und spricht – sichtlich berührt – von seiner Mutter und deren Weg durch die Irrungen und Wirrungen des 20. Jahrhunderts. Es sei für ihn eine der persönlichsten und schwierigsten Arbeiten gewesen, „Spur der Steine“ auf die Bühne zu bringen. Bereits im Programmheft hatte er geschrieben, das hier sei kein nostalgischer Abend. Der Roman verhandle „einen gesellschaftlichen Entwurf im Werden“. Dies mache den Stoff heute so aktuell: „Er erinnert uns daran, dass Gesellschaft nicht einfach passiert. Sie wird gemacht. Und sie braucht Ideen, Visionen, Utopien.“
Aber wer ein großes Publikum erreichen will, der darf auch vor boulevardesken Formen der Unterhaltung nicht zurückschrecken. Auch Neutsch nannten manche geringschätzig den Johannes Mario Simmel der DDR. Also schickt uns Nicke mit Balla & Co auf eine Zeitreise durch die Unterhaltungskunst der DDR. Denn dies hier ist schließlich der Kulturpalast des einstigen Petrochemischen Kombinats, dem Berliner Palast der Republik nachempfunden, mit einem Saal für achthundert Zuschauer. Ein Schwarzbau übrigens, von dem man in Berlin erst etwas bemerkte, als er bereits fertig war. Auch hier also waren Ballas am Werk. Es herrschte demnach kein Mangel an Selbstbewusstsein, denn Schwedt war ein industrielles Zentrum der Petrolindustrie: „Hier herrscht Faustrecht“, wie der kampfeslustige Brigadier Hannes Balla verkündet. Und heute? Da ist Schwedt eine sogenannte „schrumpfende Stadt“ und die Petrolindustrie in der Krise. Doch so weit geht die Zeitreise dieses Abends nicht, was eigentlich bedauerlich ist.
Baustellen-Western im Osten
Im großen Saal eines Kulturpalastes spielt man keine kammerspielartigen Literaturadaptionen, sondern Musicals! Das ist ein durchaus konsequenter Ansatz. Denn er passt zum Roman, mit dem Neutsch das Grau des Produktionssujets austreiben wollte. Ein Baustellen-Western im Osten mit den passenden Songs dazu. Und singen können sie alle unter der präzisen musikalischen Leitung von Tom van Hasselt und unterstützt von einer vierköpfigen Band auf der Bühne: Fabian Ranglack als Balla, Antonia Schwingel als Katrin Klee und Andreas Philemon Schlegel als Horrath.
Wird das Schauspiel mit Musik zu einem Stationenmusical, bei dem das eigentliche Spiel nur zwischen den einzelnen Gesangsnummern stattfindet? Vor einer Reihe von Jahren hat Cornelia Krombholz in Magdeburg „Spur der Steine“ sehr eindringlich auf die Bühne gebracht – und das ohne jede musikalische Rückversicherung.
Aber warum nicht einmal ein „Spur der Steine“-Musical wagen, den Stoff im Spiegel jener Lieder auf die Bühne bringen, mit denen die meisten der hier Anwesenden aufgewachsen sind? Manches Zusammentreffen überrascht. Gleich zu Beginn sehen wir auf den Vorhang eine Ruinenlandschaft projiziert und dazu hören wir die DDR-Nationalhymne, die Honecker Anfang der siebziger Jahre zu singen verbot: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ – abrupt unterbrochen von den schroffen Klängen von „Goodbye Johnny“, die Eisler vermutlich zu seiner Melodie inspiriert hatten.
Balla singt sehr unterschiedliche Lieder und das ist gut so, von „Kleine weiße Friedenstaube“ bis, recht überraschend, weil es so gar nicht zu seinem anarchistischen Gemüt passt, „Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst“ vom Oktoberklub. Dieses inquisitorische Lied gehört ganz offenkundig nicht zum Freigeist Balla, der sich keinem Entweder-Oder unterwarf. Gerade darum, als ironische Widerlegung allen agitatorischen Auftrumpfens, feiert es das Publikum. Wie der Abend insgesamt den Ton trifft zwischen ernster Erinnerung an eigenes Werden und befreiendem Lachen über die einstigen Anmaßungen von Ideologie.