Lilith Stangenberg hält Paul Behren umschlungen. Sie sitzen auf einer Matratze in einem zwielichtig aussehenden Raum.

Und nochmal Castorf?

William Shakespeare: Hamlet

Theater:Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere:03.10.2025Vorlage:HamletmaschineAutor(in) der Vorlage:Heiner MüllersRegie:Frank CastorfMusikalische Leitung:William Minke

Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg bringt „Hamlet“ als Machtspiel um Europa auf die Bühne. Regisseur Frank Castorf erzählt den britischen Klassiker in gut sechs Stunden und baut persönliche Insider und Bezüge zur eigenen Person ein. Ob das aufgeht?

Nochmal Castorf? Nochmal in Erinnerung an die innovative Volksbühnenarbeit schier endlos ausgewalzte Assoziationen bis weit nach Mitternacht voller Demut absitzen? Nochmal Castorf! Nochmal eine spektakuläre Feier des Theaters, mit der sich ein dramatischer Stoff für zeitgenössische Verzweiflung und vielleicht sogar die Möglichkeit einer Zukunft öffnet! Jedenfalls hat sich der Regiealtmeister nun „Hamlet“ vorgenommen, wo etwas faul ist im Staate Dänemark, also in Shakespeares England des 17. Jahrhunderts. Ebenso wie in unserer aus den Fugen geratenen Krisenzeit?

Aleksandar Denić baute wie immer für Castorf eine imposante Bühne: Vor drohendem Wolkenprospekt ragt ein umdampfter Bunkerausguck in die Höhe, Kampfjetlärm wird einmal dazu geblendet. Der Schriftzug „Europe“ hängt über allem, „Cola“-Reklame ganz klein darunter als Verweis auf den nicht unterzukriegenden Kapitalismus. Der Boden ist mit Imitationen von Kohlebrocken bedeckt. Wie in einem postapokalyptischen Bällebad entspannt sich darin gern mal das Ensemble. Passend zur gewählten „Hamlet“-Fassung von Heiner Müller wird die eiskalte Poesie seines Geschichtspessimismus auch mit der „Hamletmaschine“ und weiteren Müller-Texten gefeiert, ergänzt um Einblicke in „Die Göttliche Komödie“ Dantes und das Theater der Grausamkeit, das Castorf gern zitiert, aber nie realisiert. Blut aus einem Kühlschrank zu fingern, das ist das geradezu symbolische Bild für die Atmosphäre der ersten Hälfte der Aufführung.

Hamlet der Nachkriegszeit

Der immer stur gerade abseits stehende, aber kraftstrotzend präsente Hamlet (Paul Behren) gibt mit rau-heiserer Stimme den Tonfall vor. Monoton wird gebrüllt, angebrüllt gegen die Machtspiele des Stücks – als wären es die Grausamkeiten der europäischen Geschichte, wobei auch mal der „Dachau Blues“ eingespielt wird. Stalin und Lenin sind Hassobjekte, der real scheiternde DDR-Sozialismus bietet Anlass für Spott. „Alles Stasi außer Mutti.“ Aber über Kriegstreiber Putin, autokratische Staaten, Rechtspopulismus etc. wird nicht gesprochen. Das Gerede vom Aufstand ist allerdings groß, nur die Taten fehlen. Denn die Titelfigur ist nicht der grüblerische Zauderer zum Mitfiebern, bis er endlich Erlösung durch Rache sucht und jungwild aufbegehrt gegen die zynische Realpolitik der Elterngeneration. Er ist einfach nur entfesselt wütend auf den Mörder seines Vaters, Claudius.

Da bleibt viel Platz für die beliebten Abschweifungen Castorfs. Fällt das Stichwort „Witwe“, läuft eine schwarz gewandete Frau über die Bühne. Als Tim Renner wird ein Spieler angesprochen, für den Hamlet keinen Platz „in meinem Trauerspiel“ hat. Der Kulturstaatssekretär hatte die Castorf-Ära an der Volksbühne einst beendet. Wenn Claudius in der voluminösen Körperlichkeit Josef Ostendorfs erscheint, singt Hamlet den Westernhagen-Song „Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin“. Da Heiner Müller bei seiner Textarbeit an den ungarischen Volksaufstand in den 1950er Jahren dachte, werden Anspielungen dazu in Wort und Videoschnipsel ans Publikum weitergereicht. Nur: All das bleibt folgenlos.

Regie-Anspielungen

Stark erhöht hat sich bei Castorf aber die Zeitspanne, bei der die Aufführung nur auf einem Bildschirm stattfindet. Die Live-Video-Übertragungen kommen dieses Mal vor allem aus dem Bunker, der auf die Unterbühne gebaut wurde. Wo der Kraftakt der chronischen Raserei und des manisch-monologischen Nach-vorne-Sprechens dem famosen, sich exzessiv verausgabenden Ensemble tatsächlich nochmal szenische Miniaturen miteinander ermöglicht. Intensivster Höhepunkt der Aufführung ist Hamlets Sein-oder-Nichtsein-Abwägerei, zu der ihn Ophelia gierig umgarnt: zwei suizidale Menschen, die sich am Leben halten.

Nach den quälend langen drei Stunden bis zur Pause hat auch das Anreden mit den echten Vornamen der Schauspieler endlich Folgen. Ebenfalls Castorf-typisch verlassen Spieler ihre Rolle, kommentieren diese, denken weiter mit eigenem Text. Besonders viel Aufmerksamkeit erntet Matti Krause, den Castorf über Castorf schwätzen lässt. Mit wie vielen Frauen der wie viele Kinder und immer gesoffen und Jobs durch Liebesbeziehungen bekommen habe. Ja, so gut wie am Anklamer Theater sei er nie wieder gewesen. Später sei er ja als Wirtschaftsflüchtling in den Westen gegangen, mache seither immer dasselbe. Immer viel zu lang. Man könne doch auch diese ganze „Ost-Scheiße“ nicht mehr hören. Ein Lacher noch für den Sexismus bei Castorf.

Europa vor der Übernahme

Aber bei diesen Ausführungen sind erstmals alle hellwach im Publikum. Dass sich ein Regisseur derart üppig selbst zum Thema macht, ist allerdings eine neue Form der Eitelkeit auf deutschen Bühnen. Immerhin werden anschließend die Kostüme (Adriana Braga Peretzki) farbenprächtiger und fantastischer. Als aus der Schauspielerszene der Vorlage nun nicht enden wollende theatertheoretische Diskursansätze sowie Gott, Schuld und Sühne thematisiert werden, oder besser gesagt im Leerlauf rotieren, wirkt die Aufmerksamkeit für Inhalte im Parkett längst ratlos erschöpft. Die Handlung hat sich eh in der vom Hölzchen aufs Stöckchen kommenden Dramaturgie verloren. Castorf: unverwechselbar ermüdend. Am Ende wird es dann nochmal irgendwie politisch. Auftritt des neuen Thronfolgers – er spricht Chinesisch. Ja, die Übernahme Europas steht bevor.

Wenn man nach sechseinhalb Stunden aus dem Schauspielhaus wankt, total zugemüllert und überfordert von all den ziellosen Einfällen rund um die Beerdigung Europas, kann von diesem „Hamlet“-Abend eigentlich nur als Zumutung gesprochen werden, aber einer voller toller Momente. Nochmal Castorf? Ist kein Muss.