Benjamin Lillie und Ensemble in „All about Earthyuakes“

Von Babys und Beben

Nach Heinrich von Kleist und bell hooks: All about Earthquakes

Theater:Schauspielhaus Bochum, Premiere:03.10.2025 (UA)Regie:Christopher Rüping

Nach der Uraufführung bei den Wiener Festwochen zeigt nun das Schauspielhaus Bochum Christopher Rüpings „All about Earthquakes“. Die Variation nach Kleist und bell hooks bietet ein kluges und wirkungsmächtiges Katastrophenszenario, in dem die Utopie einer Welt voll aufrichtiger Liebe aufblitzt.

Die letzten Worte in Heinrich von Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ beschreiben die Empfindungen Don Fernandos, der – nach dem katastrophalen Erdbeben 1647 in St. Jago – in der einzigen verschonten Kirche der Stadt seinen kleinen Sohn durch einen rasenden Mob verloren und zugleich zum Pflegevater geworden ist: „… so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.“ Ambivalent ist auch das anschließende Finale, in dem das Ensemble nichts mehr zu sagen hat. Holz(kirchen)bänke werden an Haken befestigt nach oben gezogen, wieder langsam herabgelassen. Sie fallen, rütteln sich zurecht, knirschen und ächzen – bis sie wieder nach oben gezogen und wieder in ein neues fragiles Gleichgewicht abgesenkt werden.

Kleists Erzählung greift hundertfünfzig Jahre auf ein zerstörerisches Erdbeben in Santiago de Chile zurück, ist aber wohl eher die literarische Auseinandersetzung mit dem Erdbeben 1755 in Lissabon, das für das Europa der Aufklärung eine große Erschütterung darstellte. Ein Hauslehrer und seine Schülerin kommen sich in der kurzen und zugleich ungemein plastischen Geschichte nach dem Geschmack des Auftraggebers zu nah. Josephe wird ins Kloster gesteckt, doch trifft sich das junge Paar im Klostergarten wieder und macht den Ort für Jeronimo zum „Schauplatz seines vollen Glücks.“ Als Josephe daraufhin ein Kind zur Welt bringt, wird sie zum Tode verurteilt. Als sich nun der ebenfalls inhaftierte Jeronimo gerade erhängen will, wendet die Erdbebenkatastrophe das Blatt. Beide entkommen, Josephe rettet auch noch ihr Baby aus dem Kloster. Vor der Stadt treffen die Liebenden aufeinander, „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre.“

Text performativ erweitert

Christopher Rüping verbindet mit dem vierzehnköpfigen Ensemble die dramatische Geschichte (wie gewohnt) mit einem Ausspielen der Aufführungssituation und der Biografie der Akteur:innen. Bevor Ole Lagerpusch mit großem Ernst den Beginn des Textes vorträgt, räsoniert Damian Rebgetz anregend über seine Vorstellungskraft hinsichtlich des Publikums des Abends. Danai Chetzipetrou erzählt ihre Kindheitserinnerung von einem Beben 1999 in Zypern, die – eher pittoresk als packend – von Mitspieler:innen szenisch illustriert werden.

Die erste Irritation beim Publikum – eine Abweichung von Kleists Text – mag das Zusammentreffen von Jeronimo (Moses Leo) und Josephine (Elsie de Brauw) sein. Denn hier verlieben sich die Mutter des bereits erwachsenen Schülers (William Cooper) und der wesentlich jüngere Hauslehrer. So nah die zweistündige Auseinandersetzung am Kleist-Text ist, so sehr ist sie eine kritische und freie Bearbeitung. Hier wird nicht Kleist gespielt, sondern mit Kleist.

Verrat oder Zusammenhalt?

Geburt (rechts) und erregte Gesellschaft

Das Rüping-Ensemble pflegt den anregenden, freundlichen, aufrichtig wirkenden Kontakt zum Publikum, bewegt sich elegant und überzeugend performativ zwischen eigener Person und Rolle im Ensemble, wechselt dann jedoch auch virtuos in die Rolle der Erdbebengeschichte.

Stromausfall als anregendes Störmoment

Nach der Wiederbegegnung der Liebenden verweist ein vermeintlicher Stromausfall im Theater auf die Erschütterung der Infrastruktur durch eine Naturkatstrophe. Mit Taschenlampen spielen die Akteur:innen die fast idyllischen Talszenen. Josephine säugt auch das Kind einer anderen Familie. Auch werden die hohen Fenster eines Gerüsts im Hintergrund der sonst leeren Bühne (Jonathan Merz) mit langen Stangen geschlossen, so dass ein großes buntes Kirchenfenster entsteht, das den Hintergrund für das erlösende Finale sein könnte.

Die Wiederbegegnung - vor dem Stromausfall

Die Wiederbegegnung der Liebenden – vor dem Stromausfall

Doch endet, wie oben angedeutet, der freiwillige Besuch einer Messe der Verschonten durch die geretteten Eltern und ihre neuen Freunde (weitgehend) tödlich, nachdem der Prediger den „Frevel“ im Klostergarten mit der Sittenverderbnis vor der Bestrafung durch Gott geißelte. Diese Szenen schrecken im Wechsel aus Zitat, Kommentar und musikalischer Begleitung (Matze Pröllochs mit einem grandiosen Schlagzeug-Finale) auch von der Illustration des Kleist-Texts nicht zurück. Ole Lagerpusch ist auf hochgefahrener „Kanzel“ eines kleinen Elektrohubwagens zugleich Prediger wie erschütterter Erzähler.

In den Szenen zuvor, zwischen Düsternis und bunten Fensterlichtern entwickelt und erklärt das Ensemble eine Theorie der Liebe. Das Ensemble beschreibt Gedanken aus „All About Love“ der US-amerikanischen Autorin Bell Hooks (alias bell hooks) über Liebe als soziale Handlung, die über das eigene Ego hinausweist und weder rauschhaftes Verliebtsein ist noch mit der im patriarchalen System propagierten monogamen Ehe möglich ist.

Katastrophe und Utopie

Dabei gelingt das grandiose Kunststück, keine Bühnen-Predigt zu entwickeln, sondern vielmehr in die erratische Kleist-Geschichte über ein gescheitertes Paradies ein irritierendes Störmoment einzubauen. In Verbindung mit dem Anspielen des nur bedingt komplexen Haddaway-Songs „What is love? Oh, baby, don’t hurt me“ unterlegt die Inszenierung die Gedankenspiele performativ spielerisch – ehe das Publikum bei wieder vollem Licht zurück in die von Kleist geschilderte Katastrophe, die unseren aktuellen Befürchtungen erschreckend nahe kommt, geführt wird.

„All about Earthquakes“ hatte bereits bei den Wiener Festwochen Premiere, das produzierende Schauspielhaus Bochum beherbergt dieses Katstrophenszenario nun im eigenen Haus. Die Inszenierung bietet mit einem Ensemble aus überragenden Protagonist:innen in grandios harmonischem Zusammenspiel und mit einer dramaturgisch außergewöhnlich durchdachten Textfassung (Dramaturgie: Angela Obst) ein Schauspiel, wie es derzeit klüger und wirkungsvoller kaum vorstellbar ist.