Foto: Die Bühnenstraße in „Imagine“ © Marcel Urlaub
Text:Detlev Baur, am 27. September 2025
Kay Voges eröffnet seine erste Spielzeit am Schauspiel Köln mit einem Abend für 19 Darsteller:innen und zwei Live-Kameras. „Imagine“ reißt vieles an, lässt einiges vermissen und macht damit Lust auf Zukunft im Theater.
Am Ende der zwei Stunden von „Imagine“ fallen die ersten live gesprochenen, vielmehr gesungenen, Worte: Anke Zillich singt als reifes Schneewittchen im kleinen Gewächshaus im hinteren Teil der Bühne sitzend, per Live-Kamera (Marion Simon und Jan Isaak Voges) auf die beiden Leinwände über der Bühne übertragen, eine verfremdete Fassung von John Lennons Ohrwurm, als Chor assistieren ihr zwei Zwerge: „Imagine all the people livin‘ for today“. Steht die mit dem abgründigen Märchen verbundene Anti-Ballade im Kontrast zur rasanten Militarisierung, die sich gegen Ende unter der Bühnengesellschaft abgezeichnet hatte? Ist es eine grundsätzliche Aufforderung ans Publikum, handelt es sich um eine Parodie auf Utopie in unserer Welt oder ist es einfach der Soundtrack zur Horrorgesellschaft?
Entwicklung oder Dauerschleife?
In drei variierten Wiederholungsschleifen sahen wir zuvor auf neunzehn Leben (samt kurzzeitiger Tode und Wiedererweckungen) in einer kleinen grauen Straßenansicht. Pia Maria Mackert hat drei Holzhäuschen und eine Kapelle sowie drei überdimensionierte Straßenlaternen auf die breite Bühne des Kölner Depots – nach wie vor die dauerhafte Übergangsspielstätte des Schauspiels – gebaut. Der kompakte Ort erinnert an eine amerikanische Kleinstadt oder an eine Filmkulisse. Das Spiel in dieser faszinierenden Bühne erschafft zahlreiche starke Bilder, beispielsweise mit Anke Zillich als ältere Frau im Sessel mit Blick auf die Straße. Die Inszenierung bietet Assoziationen an Bilder von Hopper oder Filme von Anderson, Lynch, von Trier.
Anke Zillich im Fenster. Foto: Marcel Urlaub
Im Kreis verläuft eine Schiene über die Straße durch eine Klapptür in das rechte Häuschen, im Bühnenhintergrund dann durch ein weiteres Haus, die Kapelle, am Glashaus vorbei wieder nach vorne in das Haus links. Auf ihrer Dauerreise durch diese Modelllandschaft öffnet sich für die beiden versetzt selbstfahrenden Kameras dort wieder eine Luke in der Wand und weiter geht es im Kreislauf des Ortes. So entsteht eine ungemeine dichte Spielfläche, die mit ihren Grau in Grau (auch ein kleines Planschbecken und die wenigen Pflanzen sind in tristem Farbton gehalten) melancholisch grundiert ist.
Eine junge Frau (Lawinia Nowak) tritt zunächst aus dem linken Gebäude auf die Straße, geht ins gegenüberliegende Häuschen, um dort undefinierte Schreibarbeiten zu verrichten. Es folgt aus demselben „Starthäuschen“ ein ganz anderer Auftritt: mit „This is the end of every song“ von The Cure blickt ein finsterer Geselle mit Messer (Frank Genser) und vielsagendem Blick in die vorbeifahrende Kamera und begibt sich bedrohlich bewaffnet Richtung anderes Ortsende. Bald wuselt der Ort von auf- und abretenden, sich im Vordergrund oder im Hintergrund, teils über die vorbeifahrenden Kameras erfassten, Figuren.
Vielversprechender Start fürs Ensemble
In „Imagine“ – so könnte auch der Ort heißen – gibt es viel zu sehen: ein großes Ensemble, einen faszinierenden Raum, jede Menge semiotischer Zeichen, fortwährend bewegte Videobilder. Mit Auftritten im Raum links beginnen Mikrogeschichten mit immer ganz neuem, abrupt begonnenem Soundtrack (Musik: Tommy Finke): teils ist das „nur“ ein Klangteppich, teils Kirchenglocken, Flugzeuglärm oder immer wieder Regengeräusche, aber auch viel Musik, selbstkomponiert, im Original oder verfremdet von The Cure über Depeche Mode, Leonard Cohen, Einstürzende Neubauten bis hin zu Yoko Ono und John Lennon.
Auch die Bilder sind gleichsam musikalisch komponiert: Dreimal tritt Lavinia Nowak aus dem Startraum, zuletzt in Uniform. Die Kleidungen werden nun einheitlich-militärisch (Kostüm: Mona Ulrich), die Tristesse nimmt zu. Im Zentrum der zweiten Handlungsschleife steht ein fast heiterer Aufbruch, in einer Zeremonie werden zwischen Abendmahl und Drogenparty Pilze aus dem Glashaus verabreicht, von einem älteren Mann (Uwe Schmieder), der zuvor als Toter auf der Straße noch kaum beachtet worden war.
In der Kapelle beim heiteren Pilzabendmahl. Foto: Marcel Urlaub
Namenlose Figuren wie Geschehnisse bleiben vage und fern, ihr Schicksal berührt nicht. Und doch bietet das sprachlose „Imagine“ beim Zusehen viel Unterhaltung und Anregung. Vieles bleibt kryptisch oder offen, das kann man enttäuschend finden oder als Anregung annehmen. Der Start von Regisseur und Intendant Kay Voges ist in jedem Fall ein Angebot an die Stadt: sich einen Reim auf einen seltsamen, dystopischen Ort mit Gestalten wie in einem Wimmelbild zu machen.
Der Schlusstanzchor. Foto: Marcel Urlaub
Dabei bietet sich die Chance einen Großteil des (überwiegend) neuen Ensembles kennenzulernen – gerade wenn man sich beispielsweise von Thomas Dannemann als schmierigem Mann, der den Kapellenzaun grau nach streicht, auch Sprachspiel wünschen würde. Zu sehen ist ein komplexes, unterhaltsames musikalisches Schauspiel. Sprechtheater kriegen wir später, genauer heute, wenn die Voges‘ Wiener Inszenierung von „Der Name“ ihre Kölner Premiere feiern wird.