Foto: Torsten Bauer und Franziska Roth als Bellamy und Hollis in „Menschliches Repertoire“ am Theater Oberhausen. © Lukas Diller
Text:Andreas Falentin, am 20. September 2025
Dem Theater Oberhausen, seiner Intendantin Kathrin Mädler und dem Autor Noah Haidle gelingt mit der Uraufführung „Menschliches Repertoire“ ein Stück über den „Menschen an sich“. Die Schauspieler:innen können überzeugen, weil Haidle empathische Dialoge schreibt und Mädler behutsam inszeniert.
Alles ist anders derzeit am Theater Oberhausen: Das Vorderhaus ist geschlossen, es wird zum Zweck der Barrierefreiheit umgebaut; die Zuschauer:innen betreten das Theater von hinten – sozusagen durch die Brandmauer –, und die Bühne des Theaters ist jetzt nicht nur Bühne sondern auch Zuschauerraum. „Menschliches Repertoire“, das neue Stück von Noah Haidle, eine Auftragsarbeit für das Theater, spiegelt diese neue Situation sanft, macht sie aber nicht zum Thema.
Franziska Isensee hat für „Menschliches Repertoire“ einen bemerkenswert klaren Raum entworfen. In der Mitte ein ringförmiges Podest, darüber zwei Lichtringe, die sich bis zum Boden verschieben lassen und so den Raum immer wieder verändern. Rechts und links sitzen die etwa 120 Zuschauer:innen. Einmal wird die Drehbühne in Bewegung versetzt und nimmt die erste Zuschauerreihe mit, merke: Das Publikum ist Teil des Theaters! Über diesen Raum herrschen Hollis und Bellamy – nach dem Kostüm zu urteilen zwei Bühnenarbeiter (Kostüme: auch Franziska Isensee). Aber ihr Reich, das macht der Text schnell klar, ist eine Art Himmel. Sie schleusen die Toten unserer Welt, die aus dem Loch in der Mitte des Podestrings nach oben gespült werden, durch zu einer Kantine mit Getränken und Gurkensandwiches. (Was danach weiter passiert mit den Toten, erfahren wir nicht.)
Doch drei der Toten sind widerspenstig: Samantha verlangt sofort ein Gespräch mit der „Direktorin“, weil sie – wie erst am Ende herauskommt – eine Lehrerin ist, die bei einem Amoklauf in der Schule erschossen worden ist; sie will ihrem Mörder unbedingt vergeben. Lloyd will seinen vierjährigen Sohn beobachten und deswegen nicht in die Kantine gehen. Und Roxanne ist wütend, weil sie einen Doppelsuizid geplant hat, aber ihr Partner Dalton es nicht nur nicht geschafft hat, sich umzubringen, sondern auch noch eine andere liebt. Später stirbt Dalton an einem Motorradunfall im Drogenrausch.
Magischer Realismus
Das alles klingt absurd, nach ein wenig magischem Realismus, aber auch nach vielen Klischees. Noah Haidle schafft es jedoch, aus Monologen, kleinen Szenen, witzigen Duellsituationen – zum Beispiel zwischen Hollis und Lloyd, die sich über gute und schlechte Menschen und Situationen streiten – und sehr genauen Dialogen eine Empathie-Spirale zu entwerfen. Und Regisseurin Kathrin Mädler folgt ihm mit einer sehr klaren Inszenierung ohne jede „Mätzchen“. Das Publikum lernt die handelnden Personen einfach immer besser kennen.
Und die Schauspieler:innen sind fantastisch. Franziska Roth als Hollis zeigt einen Menschen, der auftaut, freier wird. 400.000 Tausend Jahre hat sie damit zu tun gehabt hat, das Leid der andern nicht zu spüren, um eben ihre Arbeit zu machen. Erst jetzt teilt sie sich mit. Der brillante Torsten Bauer als Bellamy – überfordert von seiner Arbeit, süchtig nach Alkohol, froh über jeden Kontakt, vielleicht verliebt in Hollis. Susanne Burkhard als Samantha: wirr, anhänglich, liebenswert, Khalil Fahed Aassy als schüchterner Gutmensch Lloyd, Nadja Bruder als sehr junge, sehr wütende, sehr leidenschaftliche Roxanne und David Lau als Dalton, der erst zum Schluss seine Liebe findet.
Gewaltiges Empathie-Fundament
Diese Menschen, diese Typen, ihre Sehnsüchte und ihre Defizite stammen aus dem Leben. Wir sind im Theater, aber diese Menschen kann ich überall treffen. Das ist die empathische Dialog-Kunst von Noah Haidle. Deswegen schaffen es diese Schauspieler:innen sogar, die beiden künstlichen Peripetien wegzuspielen. Erst beschließt die „Direktorin“, die nicht auftritt, die „Show“, also das Leben der Menschen, zu beenden. Am Ende geht die Show weiter, weil Dalton die Direktorin von seiner Liebe überzeugt. Da hat die Aufführung schon so ein gewaltiges Empathie-Fundament, dass alles funktioniert. Auch weil das ganze Ensemble des Theaters dabei ist, als Herde der Toten, die bei der Schlussfeier, in weißen Kostümen quer durch alle Epochen, auch ein bisschen singen, wobei sich Klaus Zwick besonders hervortut.
Dieser Abend ist eine Feier des Menschen. Es leugnet nicht das Leid und die Schlechtigkeit, aber er feiert trotzdem. Weil wir sind, wie wir sind. Vielleicht keine Utopie – aber kurz davor. „Die Menschheit ist wahrscheinlich das Schlimmste, was der Erde je passiert ist. Und doch.“, sagt Hollis am Schluss. Recht hat sie.