Vom Ordnen, von Verbindung, Verbindlichkeiten handeln diese zwei neuen Choreografien, auf je eigene Weise. „Forsythe / Hauert“ heißt der gelungene Abend, dessen Premiere die Dresden Frankfurt Dance Company, kurz DFDC, im Festspielhaus Hellerau in Dresden feierte.
Ein Abend über Stille und Laute, übers Anspannen und Treibenlassen, Fliegenlassen. Das Formen und das Entformen. Die Premiere wurde bejubelt. Seine Größe aber besteht in der Luft nach oben, auf die beide Werke verweisen, in dem Wissen, dass Superperfektion nie erreicht wird, der totale Erfolg, die vereinnahmende Show, das eine, in Marmor gemeißelte Meisterwerk, das Ideal. Streben: ja! Erreichen: – –
Das mag an den Zeitläuften liegen oder an der künstlerischen Erfahrung der beiden Choreographen: William Forsythe, der berühmte Balletterneuerer, Jahrgang 1949, der von 1985 bis 2015 das Ballett Frankfurt leitete, danach die Forsythe Company bis 2015, aus der letztlich die DFDC hervorging. Thomas Hauert, hierzulande leider wenig bekannt, 1967 in einem Schweizer Dorf geboren, im zeitgenössischen Tanz amerikanisch-belgischer Ausrichtung beheimatet und schon lange in Lausanne ansässig mit seiner Kompanie ZOO und als Tanzausbilder.
Double mit Bill
Deren beide Stücke gehen gut zusammen und fordern heraus. Statt beeindrucken zu wollen, etwa mit Bühneneffekten à la Nebelschwaden und Lichtkunst, wie momentan häufig beim zeitgenössischen Tanz, ist hier bloß Tanz, in von Dorothee Merg gestalteten farbenfrohen Hosen und Shirts. Das ehrt auch den hohen Raum in dem Festspielhaus von 1911, eine Feier der Proportionen.

Aus William Forsythes „Undertainment“. Foto: Stephan Floss
Während William Forsythe in seinem „Undertainment“ die sechzehn Tänzerinnen und Tänzer immer mal wieder zur langen Reihe organisiert, zu Beginn auch zum Halbkreis, oder zu kurzen Linien, entweder mitten auf der Bühne, quer, längs oder über Eck, oder weit weg an den Rändern der weißen Fläche, hängt Thomas Hauert sie an die Musik, eine grandiose Musik: das Klavierkonzert Nr. 3 von Sergej Rachmaninoff, das Martha Argerich 1982 für eine Plattenaufnahme (Riccardo Chailly dirigiert das Radio-Symphonie-Orchester Berlin), meisterte: „Playing with Sergei, Martha and the Others“.
Bei Forsythe erzeugen die Tänzer:innen selber den Sound, klatschen nicht nur auf Körperteile oder Boden, wie man es bei ihm von früher kennt. Mal blubbert es von der Rand-Linie aus leise und konstant, „bababo“, mal summt der Chor, pustet unisono in die Hände vorm Mund, „pff, pff“, oder wischen Hände über Unterschenkel, „ft, ft, ft“. Gepfiffen wird solistisch. Nur den Schrei werfen sowohl eine Einzelne aus, Nastia Ivanova, als auch das Ensemble. Rotiert sie dabei die Arme von innen zur Seite nach außen, fast zu schnell fürs Auge, zitiert hier Forsythe aus seinen früheren Werken. Ein Schrei-Engel. Er warnt, wütet, leidet.
Ausbalancieren
Perfekt uneindeutig, aber scharf und klar. Das Grundprinzip seiner Gesamtkomposition, das er „Kontrapunkt“ nennt in Anlehnung an ein altes musikalisches Prinzip, sieht aus wie ein ständiges Ausbalancieren von Kräften, Elementen oder Aktivitäten im Raum, hier viele, dort einer oder zwei oder mal drei. Nie nur viele, nie eine gerade Linie, die nicht sofort zerfällt, mit verschobenen Schultern, Oberkörpern. Nie nur eng gerückter Tänzerklumpen, nie nur weit Auseinanderstehende. Denn einer von denen steht eben nicht. Er rückt aus. Dann eine andere, dann zwei.
Merkwürdige Solos sprudeln im Raum, wie das leichtgängig softe, langärmlig ausdrehende von Yan Leiva, das vogelscheuchenhaft steife von Sam Young-Wright, das wie auf einem Seil vorwärts tappt, ein festgerammtes von Solène Schnüriger auf breitgestellten Beinen, mit Fäusten, die am Muskelarm rotieren. Großartige Duette entstehen, als Geburt aus Gruppe und Vereinzelung. Zwei geraten aneinander und umeinander, zwirbeln. Mit Abtauchen, Heranstrecken, Einknicken, mit Berühren oder Fast-Berühren. Und als spiele der Tanz mitunter mit Forsythe- oder Balanchine-Klischees, klappen Hände häufig nicht hoch, „flex“, sondern ab, wie eckige Haken. Dass Forsythe der DFDC hier relativ viel Struktur verordnet, innerhalb derer die Tänzer:innen mit Folgen und Führen, Dirigieren, Abschauen, Mitmachen, Ähnlichmachen, Nicht-Mitmachen spielen beim Unterarmwippen, Armheben, Kinder-Plié, dazu die vereinbarten Töne; damit scheint er den mitunter etwas enervierend jubelhaften Wildwuchs der Mandafounis-Kreationen zäumend zu begegnen.
Das Stück will
Dem ist Hauert näher, mit der für ihn typischen Art von schwarmintelligenter Moment-Kreation. An dem Abend schießt „Playing with Sergei, Martha and the Others“ den Vogel ab. Nein, der wird fliegen gelassen, erst aufgestöbert, husch, das Stück strebt, stiebt, will etwas, es will, dass es zu viel will: mit Tanz dieser Musik beikommen. Dieses zweisätzige gewaltige, gut vierzigminütige Konzert, Spitzname „Rach 3“, dichtet Solo an Orchester, in, über, mit Gruppenklang, Streicher, Bläser, romantische Sehnsucht, das Klavier hackt Akkorde, singt, tiriliert, trillert und bollert. Langsam mit Rasant, Idyll oder Drohung; die Musik möchte den Verstand verlieren, stellt Harmonien schief, gerinnt dann doch zum Lied und zur Jagdfanfare.

Aus Thomas Hauerts „Playing with Sergei, Martha and the Others“. Foto: Stephan Floss
Wenn die diesmal zwölf Tänzer:innen im Laufen schwärmen, zur Seite, vor, im Rund, und das Rückwärtslaufen emanzipieren, alle achten auf alle und vergemeinschaften den Drall, dann entsteht eine berührende Schönheit. Sie gehen mit dem Konzert, ohne platt Bewegungen nachzuahmen. Themenwechsel sind ihnen Impulse fürs Verändern. Sie teilen die Gruppe wie Teigstücke. Aus Flüssig wird Ruckelig, Winkelig, oder Hände ragen als Strohblumenantennen über Köpfen. Tänzer:innen ballen sich, als sei ihrem Raum die Luft entzogen. Sie kleben. Zweimal steigen ihre Füße auf den Rhythmus von Rachmaninov, tadamm-tadamm, ein kleiner Spaß. Einzelne wuchten sich in Phrasen der Musik wie in Wellen, die sie nicht wirklich reiten können.
Das ist menschlich und nachvollziehbar, dieses Haschen nach einem Großen, Hohen, vielleicht Monströsen und zu Schönem, das sich auch noch in sich selbst verbeißt, um dann wieder Atem zu holen. Auf anstrengende Weise liebenswert. Was will man mehr.