„Messages from Mariupol“ am Deutschen Theater Berlin

Zwischen Dialog und Ausgrenzung

Sind die europäischen Theater seit dem russischen Angriff auf die Ukraine zusammengerückt? Über die Möglichkeiten von Theaterarbeit in Kriegszeiten

aus Heft 06/2022 zum Schwerpunkt »Wie international ist die Zukunft?«

Sind die europäischen Theater seit dem russischen Angriff auf die Ukraine zusammengerückt? Über die Möglichkeiten von Theaterarbeit in Kriegszeiten

Tanz und Musiktheater sind schon immer international gewesen. Gerade im stark von russischen Künstlern geprägten Ballett ist derzeit zu beobachten, wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine diese Theaterform geradezu zerreißt. Aber auch in der Oper bedeutet der Krieg mit dem teilweisen Boykott russischer Künstlerinnen und Künstler eine Einschränkung der Zusammenarbeit, wie die Kündigung des Putin-nahen Dirigenten Valery Gergiev in München oder Mailand zeigt oder die Ausladungen der bislang ebenfalls höchst erfolgreich zwischen Russland und dem Westen wandelnden Sängerin Anna Netrebko in Deutschland wie in ihrer Heimat.

Binationale Zusammenarbeit

Wie wirkt sich aber der Krieg in der Ukraine auf die Zusammenarbeit im Schauspiel aus? In den letzten Jahren sind – gefördert durch die Bundeskulturstiftung, aber auch durch Projekte von internationalen Theaterverbünden wie der European Theatre Convention (ETC) – zahlreiche bi- oder multinationale Projekte und Produktionen auch mit osteuropäischen Theatern entstanden. 2017 war die Ukraine Partnerland des Heidelberger Stückemarkts, im selben Jahr berichteten wir auch über die Zusammenarbeit des Theaters Magdeburg mit dem Magara-Theater in Saporischschja. Über Fachkreise hinaus war ihre Wirkung in der deutschen Theaterszene allerdings eher überschaubar. Der polnischstämmige Regisseur Wojtek Klemm meint sogar, dass sich deutsche Kolleginnen und Kollegen eigentlich bislang nie wirklich für das Theater im Nachbarland Polen interessierten: „Hinter der Oder hörte die Theaterwelt auf.“

Seit dem Kriegsbeginn ist das Interesse an ukrai­nischem Theater oder ukrainischen Theaterleuten jedoch sprunghaft gestiegen. Was zunächst ein wenig hilflos mit blau-gelb beleuchteten Theatergebäuden begann, wird längst durch zahlreiche Solidaritäts­veranstaltungen abgelöst, oft Lesungen von Kriegs­tagebüchern betroffener Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine. Welche Perspektiven haben aber nun geflüchtete ukrainische Theaterschaffende an deutschen Theatern? Das Nationaltheater Mannheim hat – vermutlich nicht von langer Hand geplant, sondern eher kurzfristig – die ukrainische Dramatikerin Anastasiia Kosodii zur Hausautorin der kommenden Saison gemacht. Bemerkenswert rasch haben Internationales Theaterinstitut (ITI) und Deutscher Bühnenverein ein Jobvermittlungsportal auf den Weg gebracht, das insgesamt für geflüchtete Künstler auf der einen und deutsche Theater auf der anderen Seite eine Zusammenarbeit zum beiderseitigen Vorteil erleichtern soll. Es entsteht also derzeit eine dank digitaler Medien beschleunigte Zusammenarbeit zwischen geflüchteten Ukrainern – oder auch denen, die im Land geblieben sind – mit deutschen Theatern.

Distanz zu russischer Kunst

Erstreckt sich diese internationale Zusammenarbeit auch auf jüngst geflüchtete russische Künstler? Zur Irritation der deutschen Gastgeber erklärten ukrai­nische Theaterleute bei Lesungs- und Diskussionsveranstaltungen einhellig, dass sie für eine Zusammenarbeit mit russischen Theaterleuten keine Basis sehen. Pavlo Arie beschreibt in einem Tagebuch, dass ihm ehemals sehr nahestehende Kolleg:innen aus Russland, auch im privaten Austausch, zum Krieg geschwiegen haben. Andererseits habe er aus aller Welt Solidaritätsadressen erhalten. Auch die Autorin Julia Gonchar, die nun als Stipendiatin der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und des Goethe-Instituts in Dresden lebt, teilt bei einer Lesung in Köln mit, dass das von ihr mitgegründete Theater der Dramatiker:innen „als Statement“ nicht mit russischen Autoren, auch geflüchteten, zusammenarbeiten wolle: „Eine Zusammenarbeit ist nicht möglich.“ Fast deckungsgleich äußert sich unsere Tagebuchautorin Viktoria Shvydko vom Lesi-Theater in Lviv: „European people should understand that we fight for Ukrainian culture not only the last 49 days after the full-scale invasion, not after the last eight years after Russia started the war in Ukraine – it has continued for centuries.“

Kann sich auf dieser tiefsitzenden exkludierenden Einstellung ein europäisches Theater entwickeln? Seit Kriegsbeginn hat sich in Russland die Situation für kritische Künstler und Intellektuelle drastisch verschlechtert. Wenige Tage nach Kriegsbeginn haben noch 18000 Menschen einen offenen Protestbrief unterzeichnet. Die Chefredakteurin der inzwischen aufgelösten Zeitschrift Teatr ist im Exil, auch der Regisseur Kirill Serebrennikov ist nach Deutschland geflohen. Ähnlich wie die Autorin Sasha Marianna Salzmann hat seine Familie sowohl russische wie ukrainische Wurzeln. Im Gespräch mit der DEUTSCHEN BÜHNE hatte er gerade das Theater als einen Ort des „global trust“ bezeichnet. Das Vertrauen des vermeintlich kleineren „Brudervolks“ ist derzeit jedenfalls stark erschüttert.

Im Verhältnis Russland-Ukraine liegen die Probleme noch tiefer als beim Kriegsbeginn am 24. Februar 2022; im Osten des Landes herrscht seit 2014 Krieg. Julia Gonchar berichtet auch von einem internationalen Theaterlabor in Nürnberg, bei dem schon vor einigen Jahren die Zusammenarbeit zwischen russischen und ukrainischen Teilnehmern gefördert werden sollte: „Es lief nicht wie von den Veranstaltern erhofft, weil kein gemeinsames Stück entstanden ist, sondern ein sehr zweigeteilter, getrennter Prozess mit Russen einerseits und Ukrainern andererseits. Für die Zuschauer war das schon interessant, aber die Zusammenarbeit funktionierte nicht gut.“

So scheint der Krieg in Europa also einerseits die grenzen- und sprachübergreifende Zusammenarbeit zu beschleunigen, das Interesse in Deutschland an Kultur in der Ukraine, Russland und anderen Ländern wie Polen oder Litauen zu verstärken; andererseits sind die historisch tiefsitzenden Antipathien zwischen Russland und dem Rest des östlichen Europas deutlich verstärkt. Wojtek Klemm, der sich jüngst auf unserer Homepage äußerst kritisch über die Kulturpolitik der polnischen Regierenden äußerte, teilt die Vorbehalte aus seiner Heimat, aus den baltischen Ländern oder der Ukraine gegen das große Nachbarland und seine „imperialistische Kultur“.

Birgit Lengers, die seit 2018 am Deutschen Theater in Berlin das Festival Radar Ost kuratiert, hat kein Patentrezept zu Lösung der Konflikte: „Ich weiß noch nicht genau, wie ich es lösen soll.“ Sie hatte eigentlich für das nächste Jahr eine Produktion von Kirill Serebrennikov zusammen mit ukrainischen Künstler:innen geplant und muss nun erst einmal abwarten, wie sich die Situation entwickelt; sie hofft weiter auf eine Zusammenarbeit mit russischen Regimekritikern. Ihr Motto für die inter­nationale Zusammenarbeit lautet: „Kollaborieren statt kuratieren.“

Chancen für neue Perspektiven

Für Julia Gonchar liegt die Lösung – jedenfalls bei einer Zusammenarbeit Richtung Westen – im gemeinsamen Arbeiten an konkreten Projekten, derzeit in Deutschland, später dann wieder über offene Grenzen hinweg, und zwar über Lesungen hinaus: „Es ist wichtig, dass wir uns entwickeln, mit neuen, gemeinsam erarbeiteten Inszenierungen. Die kulturellen Unterschiede sind ja auch schön; das können wir nutzen.“ Bei einem Arbeitsaufenthalt in Thailand fielen ihr die zahlreichen religiösen Schreine in der Stadt auf. „Und dann kam ich nach Kyjiw, und mir ist aufgefallen: Bei uns stehen an jeder Ecke Kruzifixe. Das hatte ich vorher nicht bemerkt.“ Und so konnte sie selbst bei einem internationalen Projekt am Badischen Staatstheater in Karlsruhe „Blindspots“ der Deutschen und ihren Perspektiven mit aufdecken. Sie wünscht sich schnelleres Theater in Deutschland – und nicht wieder Inszenierungen von Klassikern. Birgit Lengers schätzt gerade die per se politische Kraft von Theater aus dem östlichen Europa: „Da sieht man, wie wichtig das Theater als Raum für Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit ist.“

Die technischen Möglichkeiten der digitalen Kommunikation und die seit der Pandemie gesammelte Erfahrung im Umgang mit ihnen erleichtern derzeit den Austausch enorm – und bieten auch künstlerische Perspektiven. Bei einer Solidaritätsveranstaltung mit ukrainischen Künstlern am Welttheatertag im Deutschen Theater Berlin waren ukrainische Künstlerinnen und Künstler vor Ort, andere wurden per Livevideo aus dem Kriegsgebiet zugeschaltet. Eine Schauspielerin aus Mariupol war per Tonaufnahme zu hören: Sie berichtete darin über ihre Flucht und die aktuelle Situation, während ein leerer Stuhl auf der Bühne per Spot ins Zentrum des Saals geriet. Der ferne, uns sonst nur medial vermittelte Krieg wurde so im Theaterraum real spürbar. Das zerstörte Theater in Mariupol ist inzwischen Symbol für einen internationalen Theateraustausch geworden, der von Empathie geprägt ist.