Paul Hindemiths Oper „Cadillac” am Theater Hagen

Zwangspausengedanken

Es ist Zeit für Grundsatzfragen! Gedanken zur Einleitung in diesen Themenschwerpunkt

aus Heft 06/2020 zum Schwerpunkt »Zwangspausengedanken«

Es ist Zeit für Grundsatzfragen! Gedanken zur Einleitung in diesen Themenschwerpunkt

Ist eine Krise der richtige Zeitpunkt für Grundsatzfragen? Kann nicht jedes heute scheinbar so relevante Thema morgen schon wieder von gestern sein? Ja! Aber dieses Risiko wollten wir eingehen. Krisen bringen oft die Essenz der Verhältnisse mit schmerzhafter Klarheit an den Tag. Gerade da kann es helfen, zurückzutreten, damit aus dem Abstand die Zusammenhänge kenntlich werden. Deswegen glauben wir, dass dieser Schwerpunkt, der – neben Beiträgen zur unmittelbaren Aktualität – auch viele distanziert reflektierende Texte enthält, richtig ist für diese Situation, die uns ein unberechenbares Virus eingebrockt hat.

Was also wird erkennbar?

Klar ist: Das Virus hat den Staat genötigt, das gesellschaftliche Leben aufs Notwendigste zurückzufahren. Dass das Theater nicht zu diesem Notwendigsten gehört, war ebenso klar. Wie auch? Vorerst ging es darum, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren und das Infektionsrisiko zu mi­nimieren. Deshalb war es nachvollziehbar, dass die Menschen auch im Theater nicht zusammensitzen konnten. Als aber erste Lockerungen ins Auge gefasst wurden, da wurden die Prävalenzen im Gemeinwesen neu verteilt. Erstens durch Gewährung von Öffnung und zweitens durch Präsenz in der öffentlichen Diskussion. Geschäfte durften wieder öffnen, sogar Shoppingmalls, Baumärkte, Möbelhäuser. Man re­dete über Geisterspiele in der Bundesliga, über die Öffnung der Kneipen und Frei­bäder, redete in mehreren Medien sogar über die Kirmes to go, die ein Schausteller aus Iserlohn auf die Beine gestellt hatte. Dort kann man zwar nicht Karussell fahren, aber immerhin schon wieder Zuckerwatte kaufen. Die Nachfrage soll groß sein. Aber man redete nicht über die Theater. Die blieben geschlossen.

Dafür streamen sie …

… was die Server hergeben. Eine Vielfalt neuer Formate schießt aus dem Boden, Mitschnitte historischer Theaterproduktionen werden hervorgeholt, all das findet dankbare Abnehmer – und ist doch nur ein Ersatz. Denn der Kern des Thea­tererlebnisses ist das empathische Mit­einander vieler Menschen. Vermisst das denn niemand?

Die Politik kümmerte sich lange Zeit nur um die finanzielle Versorgung der arbeitsverhinderten Theatermacher – genauso, wie sie sich auch um die Versorgung der arbeitsverhinderten Zuckerwatte­händler kümmert. Teils klappt das gut, teils leider nicht so gut. Aber dass die Theater wieder spielen müssen, dass sie als Künstler eine Rolle spielen könnten bei der Bewältigung dieser Krise mit all ihren Aspekten: mit der Verunsicherung durch Ansteckungsgefahr, den staatlichen Durchgriffen auf Grundrechte, mit den asozialen Zügen, die aufgebrochen sind, als Klopapier und Nudeln gehamstert wurden und selbstberufene Blockwarte in den Urlaubsorten den plötzlich unwillkommenen Gästen mit den falschen Nummernschildern die Autoreifen zerstachen – dass die Theater wieder spielen müssten, um dabei zu helfem, diese Krise auch mental und kulturell zu bewältigen, das kam kaum jemandem in den Sinn. Die Diskussion über die Lockerungen zeigte schlagend einen gravierenden Relevanzverlust des Theaters.

Und als dann so urplötzlich zum Aufbruch geblasen wurde, dass einige Intendanten und Kulturpolitiker vor Überraschung fast aus den Sesseln purzelten– da geschah auch das mancherorts mit einer Kaltschnäuzigkeit gegenüber den Bühnen, die sprachlos machte. Am 6. Mai, in Angela Merkels Schaltkonferenz mit den Ministerpräsidenten, übergab die Kanzlerin das Heft des Handelns an die Länder. Noch am selben Abend entließ Armin Laschet, der Öffnungszampano der Coronadiskussion, die NRW-Theater in die Freiheit: Nur fünf Tage später sollte es in bestimmten Bereichen wieder losgehen. So, als sei Theaterspielen so einfach wie Zuckerwatteverkaufen. Wie die Hygieneauflagen erfüllt werden sollten? Welche Auflagen galten? Nichts war geklärt. Die Theater wurden mit der Verantwortung alleinge­lassen. Nur die Ruhrtriennale, deren Leiterin Stefanie Carp sogar vorhatte, Coronakonzepte für das im August startende Festival zu entwickeln, hatte man zuvor eilends abgesagt. Bei Redaktionsschluss sah es so aus, dass jedes Bundesland auf eigene Faust loswurschtelte: NRW oder Hessen vorneweg; Bayern oder Baden-Württemberg eher zurückhaltend – als verhalte sich das kleine ­SARS-CoV-2-Tierchen am Rhein anders als an der Isar.

War Corona daran schuld …

… dass Theater so wichtig war wie Zuckerwatte? Dass es zwar als Versorgungsfall wahrgenommen, als künstlerischer Gesprächspartner im Krisendiskurs aber lange ignoriert wurde? Oder zeigt die Krise nur jene Konturen schärfer, die sich schon vorher herausgebildet haben? Haben wir versäumt, mitzureden, mit jener Unverwechselbarkeit und Widerständigkeit, die dem Theater in seinen besten Zeiten eigen waren: im Wiederaufbau nach 1945? Im gesellschaftlichen Aufbruch nach 1968? In der Befreiung der DDR 1989? Dabei waren wir doch so strebsam. Wir haben uns für Gender Equality eingesetzt und Gender Mainstreaming, für Diversity und Critical Whiteness, gegen Diskriminierung und sexuelle Belästigung, haben Theater gemacht für Migranten, für Brennpunkt-Stadtteile, für Junge und für Alte, und die Politik hat uns dafür so sehr auf die Schulter geklopft, dass wir kaum noch gerade stehen konnten. War das alles falsch? Nein, natürlich nicht, es war richtig! Aber es war eben das, was alle, die politisch etwas auf sich halten, auch richtig machen. Der Zuckerwattemann dagegen hat einfach nur für seine Zuckerwatte gekämpft. Vermutlich. Jetzt hat er seine Kirmes to go.

Angepasstheit:

Wann wäre die seit der Aufklärung je eine Stärke des Theaters gewesen? Denken Sie an Christoph Schlingensief! Der war schon im letzten Jahrtausend mit extrem diversen Theatertruppen unterwegs. Mit Obdachlosen, Junkies, Dragqueens, Migranten … Aber angepasst? Politisch korrekt? Schlingensief doch nicht! Der war in seiner Kunst und auch im von ihm kultivierten  Selbstreflexionsdiskurs radikal unangepasst. Damit wurde er gehört. Vielleicht sollten wir wieder so wie er über Kunst reden? Unbequem. Unkorrekt. Radikal.

Anpassung ist nicht per se Sache der Kunst. Diese entsteht idealiter aus vollkommen subjektiver Dringlichkeit. Und sie bedient sich dabei einer Sprache, die nur dann beredt wird, wenn der Betrachter sie mit seinen eigenen Assoziationen auflädt. Dieses Zusammenspiel von produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Subjektivität sorgt dafür, dass uns ein Kunstwerk treffen kann wie ein Donnerschlag. Oder wie ein brennender Dornbusch: Wir erleben etwas nie Gesagtes, uns vielleicht höchstens halb Bewusstes, das aber so, als sei die Botschaft direkt an uns gerichtet. Sie trifft uns im Innersten. Der große Joseph Beuys hat dieses Paradox der subjektiven Intersubjektivität in die schöne Formulierung gefasst, dass der Betrachter „der Mitarbeiter“ des Künstlers sei. Dadurch kann Kunst unsere Diskurse bereichern, wie es keine andere Form des Denkens oder Diskurses kann.

Das Besondere …

… der Theaterkunst besteht darüber hin­aus darin, dass sie ihre Botschaften mittels der Sprache und mittels leibhaftiger dramatischer Interaktion versinnbildlicht. Anders gesagt: Es wird uns vorgespielt, was kommuniziert werden soll. Die Botschaft wird quasi in einer sozialen Versuchsanordnung auf die Probe gestellt. Mehr noch: Theater wird gemeinschaftlich erlebt, in der empathischen Vereinnahmung einer ganzen Zuschauerschaft, die mitfühlt, mitleidet, mitschaudert, sich manchmal furchtbar miteinander ärgert und sich auch mal so richtig miteinander freut. So liegt es im Keim des Theatererlebnisses, dass die Botschaft der Bühne unter den Zuschauern diskursiv weiterwirken will. Theater ist per se diskursiv, kollektiv und damit gesellschaftlich. Und genau darin, in dieser ein Kollektiv bewegenden Kraft, ist es einmalig.

Das Außersichsein …

… gehörte schon bei den antiken Dionysien zu dieser kollektiven Empathie. Genau hier liegt die gesellschaftsverändernde, zugleich aber Gemeinschaft stiftende Kraft des Theaters. Das Sprengen der Konvention und das Stiften eines neuen, unmittelbar erlebten sozialen Zusammenhalts waren schon im alten Griechenland die zwei Seiten der einen Theatermedaille, ebenso in der bürgerlichen Aufklärung, nach 1945, nach 1968 und 1989. Und das sollte ausgerechnet jetzt obsolet sein? Das glaube ich nicht. Nein, das Theater wird in der Coronakrise so dringend gebraucht wie eh und je. Darum ist es existenziell, dass es sich zurückmeldet – und dazu jetzt die Chance hat. In Bautzen, Dortmund, München, Siegen und an vielen anderen Orten melden sich inzwischen Intendanten mit Vorschlägen zu Spielkonzepten zu Wort. Und siehe da: Sogar Angela Merkal fand nun, spät, aber nicht zu spät, Worte zur Kultur in der Kulturnation Deutschland: In ihrer wöchentlichen Videobotschaft versprach sie, Künstlerinnen und Künstler durch Hilfsprogramme zu unterstützen, „aber auch dadurch, dass wir sagen, wie wichtig Sie für uns sind“. Ziel sei, dass „unsere breite, vielfältige kulturelle Landschaft auch nach der Überwindung der Pandemie, nach der Überwindung dieses tiefen Einschnitts weiterexistieren kann“.

Gut gebrüllt, Löwin! Auch wir, die Redaktion der DEUTSCHEN BÜHNE, wollen wieder mehr und grundsätzlicher über Kunst reden. Dieser Schwerpunkt ist nur ein Anfang.