Widersprüche leben

Für die Bühnenbildnerin Katrin Wittig ist Bauhaus nicht nur eine ­Kunstrichtung, sondern eine Form ästhetischen und gesellschaftlichen Denkens

aus Heft 06/2019 zum Schwerpunkt »Bauhaus auf der Bühne«

Für die Bühnenbildnerin Katrin Wittig ist Bauhaus nicht nur eine ­Kunstrichtung, sondern eine Form ästhetischen und gesellschaftlichen Denkens

Ich bin in der DDR aufgewachsen, wo in einer Mangelwirtschaft versucht wurde, die Ideen des Bauhauses umzusetzen. Das führte dazu, dass sich die Häusertypen und Formen in den Stadtvierteln sehr stark wiederholten und ich mich deshalb mangels erkennbarer Orientierungsmerkmale leicht verlief. Und obwohl die Neubauten in Dresden andere waren als in Chemnitz oder Berlin, war diese einfache Formensprache für mich ein Zeichen für Tristesse. Dadurch, dass man dafür die Häuser der Gründerzeit verfallen ließ und die Menschen darin froren und mit nassen Wänden zu kämpfen hatten, war ich skeptisch. Das neue Wohnen war begehrt und wenigen gegönnt; und zwischen den großen Neubauriegeln in meinem Viertel war viel Platz, und es zog und stürmte um die Ecken der Häuser. Das Reißbrett und die Repräsentation waren mit eingezogen in die neuen Viertel.

Somit habe ich mit den Bauhaus-Ideen, wie sie in der DDR umgesetzt wurden, gehadert. Erst nach der Wende und mit dem Studium der Architektur und Kunstgeschichte konnte ich die Bemühungen des Bauhauses und der Moderne als Ideen für allgemeine gesellschaftliche Veränderungen einordnen und verstehen. Wahrscheinlich durch meine Wendeerfahrung – die konkrete Erfahrung der Veränderung einer Gesellschaft zu einer komplett anderen und das Wissen darum, dass beide Lebensarten noch sehr lange vorhanden sein werden – habe ich mich dafür entschieden, anzunehmen, dass ich mich in einem laufenden Prozess befinde, der weiter anhalten wird.

Die eine Sozialisa­tion ist geprägt vom Christentum, folgt der Ikonographie des Christentums im Alltag, seinen Rollenbildern und ihren Erzählungen. Die andere Sozialisation ist geprägt von sozialistischen Rollenbildern, von Gemeinschaft und vom Wir, aus dem in der Wendezeit ein Gegeneinander wurde, weil man sich in der neuen Welt sehr schnell einen neuen Platz suchen musste. So wurden aus Sozialisten Materialisten, wie vorher aus Ideen Ideologien geworden waren und zu totalitären Systemen geführt hatten. Nun aber gibt es seit einiger Zeit wieder eine soziale Bewegung mit Sharing, Commons, Peer to Peer. Die Ideen des Bauhauses gehören für mich zu einem Teil der konzentrischen Kreise, in denen sich die Gesellschaft verändert. So treffen immer wieder zwei verschiedene Modelle aufeinander, sowohl im Großen für die Gesellschaft als auch im Kleinen für die Familie – so auch für das Theater: Wollen wir die Guckkastenbühne oder die Raumbühne? Wollen wir Hierarchie oder gleichberechtigtes Leben? Genauso verhält es sich mit den Sichtweisen der Kunst. Kunst als immer politisch zu sehen oder Kunst als Kunst um der Kunst willen: Das sind zwei gegensätzliche Perspektiven.

Aber müssten wir uns dann nicht mit beiden Systemen beschäftigen, mit beiden Standpunkten, beides im Gedanken zulassen, die Vor- und Nachteile von beiden betrachten? Darin liegt, glaube ich, die Chance: beide untersuchen, nebeneinanderstellen und daraus Schlüsse ziehen – auch für ein gesellschaftliches Miteinander. Nach dem Zweiten Weltkrieg, genau wie nach dem Ersten und später nach dem Mauerfall, trafen die Moderne und die traditionelle Rollenverteilung aufeinander. Und stets war zu sehen, wie der Kampf von Systemen gegeneinander idiotistische Positionen hervorbringt.

Wie wäre es, statt zu polarisieren, es mit uneitlem Denken zu versuchen: sich eine Sache ansehen, sich Zeit nehmen und Raum lassen, um Mechanismen und Muster zu erkennen im eigenen Handeln. Das haben schon die Bauhäusler mit ihren Untersuchungen der Grundformen, Grundfarben und dem Ziel „Form follows function“ als humanistische Grundbildung begriffen. Und trotzdem habe ich in gewissem Maße Verständnis für Manierismus, für die Sehnsucht, sich in einer überbordenden Sache zu verlieren. Gehört das nicht zum Wesen des spielenden Menschen? Und doch bleibt das Wichtigste die Verantwortung, die wir füreinander haben, weil wir nicht allein sind.

Erwin Piscators und Walter Gropius’ Totaltheater

Die Idee des Totaltheaters von Erwin Piscator und Walter Gropuis, des Theaters der Zukunft, nutzt den Kreis als Grundform von Gesellschaft. Mit den Raumformen der Rund-, Relief- und Tiefenbühne wollten sie die künstliche Trennung, die das Proszenium zwischen Schauspieler und Publikum schiebt, aufheben – und damit auch die Trennung von Kunst und Gesellschaft. Sie forderten für ein neues Theater Anonymität, Verwandlungsfähigkeit und Beweglichkeit und im Bühnenbereich Freiheit für Inszenierungen. Das Theater der Zukunft sollte den Zuschauer zum Aktivisten machen. Ich persönlich würde diesen Begriff zum einen einschränken und zum anderen erweitern. Die Möglichkeit, den zuschauenden Besucher zu einem Teilhabenden zu machen, hat mich immer interessiert. Und zwar in dem Sinne, dass Teilhabe am Theaterprozess für mich stets auch ein Erproben der Gesellschaft ist. Genau das interessiert mich an dieser Aufhebung der Trennung. Die Aktion von Aktivisten sollte einer neuen Kommunikationsform Raum geben. Und mit dem aktiven Zuschauer sollte sich der reflektierende Zuschauer verbinden. Aktion und Reflexion – der Handlung und der eigenen Handlungsmuster: Das wünsche ich mir! Die Chance dieses Theaters liegt im Hineintragen der Geschichten in die Welt der Zuschauer, sodass die Handlung vor und über und zwischen und mit ihnen spielt. Und ich meine damit nicht das klassische Mitgefühl, die Einfühlung, sondern die Erkenntnis als Wiedererkennen von Situa­tionen eigenen Erlebens im Theater.

Dabei spielt es für mich keine Rolle, wie viele bewegliche Stellwände und transparente Projektionsflächen, auf die von hinten aus Projektionskammern Bilder oder Filme projiziert werden, den Raum füllen. Ich stelle mir für die Zukunft einen emanzipierten Zuschauer vor, dem alle verfügbaren Informationen in einem Raum zur Verfügung gestellt werden und der, ohne zu polarisieren, sich das Gesamtbild aneignet. Das Bauhaus hatte damals in seiner absoluten Struktur teilweise ähnliche Muster wie seine Gegner: Ornament hieß Verbrechen, Schnörkel entsprach Hierarchie- und Monarchieglaube. Das waren die Lager dieser Zeit. Darüber sind wir immer noch nicht hinweg. Aber wir haben die Demokratie und das Recht auf Bildung erlangt. Sollte uns das nicht helfen, auch diese Polarisierung zu überwinden? Mit der Verbreitung der Idee Bauhaus, mit der Weiterführung im Black Mountains College, mit dem bis heute sich über die ganze Welt legenden und weiterentwickelnden Grundfragenkomplex, ist das Bauhaus spannender und lebendiger, als es in seinen Anfängen war.

Der große Saal des Palastes der Republik, die Multifunktionsbühne, die mit dem Abriss des Palastes auch als Idee von Totalem Theater weggeworfen wurde, kommt mir in den Sinn, wenn ich gefragt werde, wo man heute eine Piscator-Bühne finden würde. Man kann jedoch in jedem Veranstaltungsraum eine Gemeinschaft herstellen. Es müssen nicht immer erst Gebäude eingerissen werden, um eine Gesellschaft zu verändern. Es geht auch, wenn man mit den Menschen in vorhandenen Räumen Begegnungen schafft.

Genie und Absolutismus

Ich verstehe, dass in der Aufklärung, wo der autonome Mensch gefeiert wurde, Helden und Idealfiguren ein geeignetes Mittel waren, um Inhalte zu transportieren, und dass in der Kunst der Genie­glaube gefeiert wurde. Heute nähert sich die Feier des vereinzelten Helden und des Genies aber dem Absolutismus an. Demgegenüber steht das Bauhaus für neue Formen der Zusammenarbeit an einem Werk. Kunst und Technik, Idee und Umsetzung arbeiten zusammen. Kollektive, Kooperationen, Thinktank, Peer to Peer sind deren Weiterentwicklungen. Und schließlich muss der Konkurrenzglaube zwischen Mann und Frau aufhören. Beide Geschlechter haben durch ihre Sozialgeschichte verschiedene Kompetenzen und Fehler ausgebildet. Die Kategorien sollten nicht „Besser“ oder „Schlechter“ heißen.

Andor Weiningers mechanische Bühne, der Diapolyekran des Bühnenbildners und Lichtexperimentators Josef Svoboda, László Moholy-Nagys Lichtrequisiten und seine Licht- und Schattenobjekte, Hirschfeld-Macks Farbenlichtspiele ermöglichten mir den Weg zu der Idee der mehrper­spektivischen Betrachtung. Die Simultansituation in Räumen, in Ausstellungen, im Theater ermöglicht ein komplexes Sehen und Erkennen von Themen, und sie ermöglicht Erkenntnis aus all dem, indem man alle Punkte einer Sache sich nebeneinander ansehen oder anhören kann: das Zusammenspiel beobachten, zuschauen, wie eines das andere bedingt. Das Bewerten von Situationen, das aus der Bibel gelernte Gleichnis, das Argumente sammelt zur Verteidigung einer Person oder einer Handlungsweise, setzt uns Zuschauer/Hörer/Besucher der Situation auf die Schöffenbank. Aber wer sich ein Urteil bildet, ist selten unparteiisch. Sich Meinungen anhören und Kontexte aneignen, Grundsituationen verstehen und selbst einen anderen Weg suchen, den man nicht kennt – das ist natürlich eine unsichere Sache. Das scheint mir aber die eigentliche Freiheit zu sein.

Denn genau da wird es interessant. Denn da sind wir bei der Selbstverantwortung und bei unserer Beziehung zum Ungewissen, zur Leere. Und von da aus müssen wir erkennen: Manche Idee des Bauhauses, das Verteufeln des Ornaments als Ausdruck feudalistischen und monarchischen Hierarchieglaubens – auch das war nur eine Richtschnur.

Licht und Schatten sind eins

An ihr orientierten sich die Minimalisten der Nachkriegszeit, die konkreten Maler und die entschlossenen Nichtmehr-Maler und Bildhauer wie die Künstler von Art and Language: Joseph Kosuth und Lawrence Weiner oder Yves Kleins leere Räume und Michelangelo Pistolettos Università delle Idee. Was da vor sich ging, betraf genau diese Frage. Und wir sind noch mittendrin. Ich möchte schließen mit einem Text auf der Homepage von Bazon Brocks Denkerei, der auf den Punkt bringt, worum es mir geht:

„Was wäre gewonnen, wenn wir davon ausgingen, dass die Moderne überhaupt noch nicht wirklich begonnen hat? Wie lässt sich ein solcher Befund tätigen, ohne einem apokalyptischen Unterton zu verfallen? Wenn die Moderne ein Versprechen auf Einlösung des Idealen gewesen ist, ist sie immer schon eine Lüge gewesen. Wenn wir uns von falschen Ansprüchen befreien, dann wäre die Moderne ein gutes Synonym für die Zustimmung zur Zivilisation, die im Sinne von Bazon Brock allein dazu in der Lage ist, die Kulturen zu relativieren. Nur dann wäre die Moderne fähig zu einer selbstreflexiven und auch selbstrelativierenden Verneinung aller fundamentalistischen und aufs Ganze gehenden Gestaltungsansprüche (wie zum Beispiel dem Stil als Heilsfigur, der geschichtsphilosophischen Errettung, dem Design als Theodizee, der Reinheit und dergleichen mehr). Es wäre dies aber auch ein Bekenntnis zu einem ,unreinen Leben‘, einem Leben in durchaus auch belastenden und beschmutzenden Widersprüchen.“