Diszipliniert gelassen

Laurent Hilaire ist neuer Ballettchef des Bayerischen Staatsballetts als Nachfolger des zurückgetretenen Igor Zelensky. Schon jetzt weht ein neuer Führungswind in München: kommunikativ und zugewandt. Eine Begegnung

aus Heft 09/2022 zum Schwerpunkt »Saisonvorschau 2022/23«

Seine Reputation in der Ballettszene ist mächtig groß. Am 9. Mai hat Laurent Hilaire seine Arbeit als neuer Direktor des Bayerischen Staatsballetts aufgenommen. Über sich selbst sagt er: „Ich bin keiner, der kommt und bestimmt, dass das so und so zu laufen hat.“ Voller Elan ist er mitten in die laufende Saison eingestiegen und brennt nun darauf, „die vielen Ambitionen für diese Compagnie“ auch umzusetzen, die er mit in die bayerische Landeshauptstadt gebracht hat. Dazu mag auch ein gewisses Maß an Strenge gehören.

Dass der 59-Jährige für einen anderen Leitungsstil steht als sein aus „persönlichen Gründen“ quasi über Nacht zurückgetretener Vorgänger Igor Zelensky, zeichnet sich bereits ab. Seine nationale Herkunft, die bei Künstlern eigentlich gar kein Thema sein sollte, macht Hilaire als Franzosen zu einem per se interessanten Novum in der langen Geschichte des Balletts in München. Wofür aber steht der zurückhaltende Neue, auf den sich das Bayerische Ministerium für Wissenschaft und Kunst und die Münchner Opernintendanz selten zügig einigen konnten?

Eine neue Kommunikationskultur

Hilaires gradlinige, aufgeschlossene Persönlichkeit strahlt Ruhe und fundierte Energie aus. Maßgeblich von seinem Vorgänger unterscheiden ihn seine kommunikative Offenheit, Lockerheit im Umgangston und die generelle Bereitschaft zum diskursiven Dialog. Auf Gespräche legt Hilaire – nach innen ebenso wie nach außen – großen Wert. Seine Intention ist, Kontakt zum Publikum aufzunehmen und Möglichkeiten anzubieten, damit es „unsere Arbeit oder auch aktuell vor dem Hintergrund des Rassismus gesellschaftlich in die Kritik geratene Inhalte großer Handlungsballette besser verstehen lernt. Wir wollen uns nicht verstecken“.

„La Bayadère“, das in der Fassung von Patrice Bart nach fünfjähriger Pause wieder aufgenommen werden wird, und andere Meisterwerke wie „Nussknacker“ oder „Raymonda“ einfach zu eliminieren hält Hilaire für falsch. „Man muss sich darum kümmern, eventuell bestimmte Passagen anpassen – oder eben aufklärend und pädagogisch an die Sache herangehen. Tauchen Probleme auf, sucht und findet man Lösungen“ – davon ist er überzeugt.

Seine Tür steht jedem offen, der Fragen hat. Gerade als man sich erkundigen will, inwieweit Mitglieder des Ensem­bles schon den Diskurs mit ihm suchen, klopft es. Es ist Igor Zelenskys Frau Yana Zelensky, seit 2016 Ballettmeisterin am Bayerischen Staatsballett. Sie bleibt – auch wenn die Situation für sie nun komplizierter sein mag: „Solange sie ihre Aufgabe gut macht, gibt es keinen Grund, an ihrem laufenden Vertrag zu rütteln. Wir starten alle hier gemeinsam neu durch, und die kommenden Monate werden zeigen, wie sich das entwickelt.“

Besprechungen mit dem gesamten Ballettmeisterteam dienen dem Austausch. „Es gibt Dinge, die sie von mir lernen können, und welche, die ich von ihnen lernen werde. Sie sind diejenigen, die mit der Weitergabe und Einstudierung von Stücken betraut sind, den Tänzern Stil, Esprit, innere Haltung vermitteln und an der Interpretation mitfeilen. Keine leichte Sache. Ein guter Ballettmeister kann den Ausschlag geben, ob ein Werk formidabel wird, der Zuschauer es leicht zu lesen vermag oder eine Choreografie letztlich nur mittelmäßig interessiert.“

Zweifellos verfolgt Hilaire genaue Zielvorstellungen. „Aber ich versuche, nicht fix und steif dabei zu sein. Jeder hat seine Angewohnheiten, da wirkt ein anderer Blickwinkel stets stimulierend. Ich komme von außerhalb, mit meiner Geschichte, meinem Hintergrund. Langsam beginne ich zu begreifen, wie hier alles funktioniert – die internen Abläufe, das Repertoiresystem –, und ich lerne die Tänzer und Produktionen kennen. Das ist die Basis, an der ich ansetzen kann, Vorschläge zu machen und meiner Aufgabe als Direktor nachzukommen und zu bestimmen, welche Richtung wir einschlagen.“

Vom Tänzer zum Ballettchef

Als Ex-Tänzer hat Hilaire Legendenstatus. Seine Ausbildung erhielt er an der ältesten Ballettschule der Welt, der 1713 gegründeten Tanzschule der Pariser Oper. 1979 wurde er ins dortige Ensemble übernommen. Rudolf Nurejew ernannte ihn 1985 nach einer „Schwanensee“-Aufführung zum Danseur étoile – ein nur in der französischen Hauptstadt vergebener Rang, der noch über dem eines Ersten Solisten liegt. Hilaires an verschiedenen choreografischen Handschriften reiche Tänzerkarriere wurde durch zahlreiche Gastauftritte ergänzt – beim Royal Ballet in London, an der Mailänder Scala, beim American Ballet Theatre, Australian Ballet und beim Staatsballett Berlin.

2005 beendete er seine aktive Tänzerkarriere und wechselte auf die Ballettmeisterseite. Sechs Jahre später wurde Hilaire zur „rechten Hand“ von Brigitte Lefèvre, der damaligen künstlerischen Leiterin des Ballet de l’Opéra de Paris. Sie hätte ihn gern als Nachfolger gesehen, doch die französische Kulturpolitik entschied sich anders.

Bis kurz nach Ausbruch des Ukrainekriegs hatte Hilaire fünf Jahre lang erfolgreich die Ballettsparte am Moskauer Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater geleitet. Sein Vorgänger dort war auch schon Igor Zelensky. „Dass ich ihm zweimal nachfolge, ist purer Zufall. Begegnet sind wir uns nur professionell kurz im Zuge des noch von ihm eingefädelten Münchner ,Mayerling‘-Gastspiels der Stanislawski-Compagnie – 2017, mein erster Besuch hier. Das war’s. Russland verlassen habe ich, weil aus meiner Sicht die Freiheit der Kreation vom Tisch war – nicht die meine, aber generell. Darauf muss man reagieren. Nachdem ich gekündigt hatte, war ich arbeitslos und kehrte nach Frankreich zurück. Dort hat mich später das bayerische Kunstministerium kontaktiert.“

Erfolge in Moskau

Unter Hilaires Direktion wurde das Stanislawski-Ballett in Russland zweimal als beste klassische und beste zeitgenössische Truppe ausgezeichnet. Die choreografische Bandbreite des Ensembles hatte er ausgebaut mit Werken u. a. von Alexander Ekman, William Forsythe, George Balanchine, Marco Goecke, Angelin Preljocaj, Sharon Eyal oder Hofesh Shechter.

Ein hohes tänzerisches Qualitätsniveau sowie Respekt und Kompetenz im Umgang mit alten wie neuen Ballettwerken steht bei ihm auch in München an oberster Stelle. „Als ich ankam und mich Intendant Serge Dorny der Compagnie vorstellte, habe ich den Tänzern gesagt, dass ich an ihrer täglichen Arbeit stark teilhaben, in sie eingreifen und mich sehr in die Aktionen einbinden werde. Das liegt in meiner Natur.“ Mit ihren Anliegen sollen die Tänzer direkt zu ihm kommen. „Wir reden dann einfach darüber.“

Wenige Tage vor seinem Amtsantritt hatte Hilaire betont, sich für die bestmögliche Umsetzung des noch in toto von seinem Vorgänger geplanten Programms der Saison 2022/23 zu engagieren. „Je eher ich die Compagnie in ihrer Struktur verstehe, desto früher können wir mit der Arbeit loslegen – selbst wenn das Repertoire der kommenden Spielzeit nicht ,mein‘ Repertoire ist. Für mich stellt das überhaupt kein Problem dar“, sagt Hilaire. Im Augenblick beschäftigt ihn längst die Programmierung der übernächsten Saison. „Reichlich spät – möglicherweise werde ich mich anpassen müssen, weil bestimmte Choreografen, für die ich mich interessiere, keine Kapazität mehr haben. Damit muss ich umgehen.“

Hilaires Credo: Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme

Spielraum für eigene Akzente bleibt Hilaire zunächst wenig. Zelensky hatte lediglich offengelassen, wer an der Premiere „Heute ist morgen“ zum Auftakt der Münchner Opernfestspiele 2023 mitwirken solle. Hier kann Hilaire, der das als Plattform für den Nachwuchs ausgelegte Format gutheißt, in puncto Uraufführungen eine erste künstlerische Auswahl treffen. Bis dahin sieht er seine vordringlichsten Aufgaben innerhalb des Alltäglichen. „Heute habe ich mir das Training angesehen, war in einer Probe. Mir fällt ein Detail, eine Handhaltung auf, das spreche ich an. Jedem Schritt eine Bedeutung zu geben ist fundamental.“

Während man Hilaire im Interview gegenübersitzt, verfestigt sich der Eindruck, dass er sich an seiner neuen Wirkungsstätte nicht nur am rechten Platz, sondern auch wohl fühlt. Er ist allein nach München gewechselt. Ihm ist die Botschaft an die Compagnie wichtig, „für und wegen der Zusammenarbeit gekommen zu sein“. Diesmal jedoch werden sich seine zwei in Paris lebenden Töchter und Freunde leichter bei ihren Besuchen tun. Im Gegensatz zu Zelensky, der in den vergangenen Jahren oft unterwegs war, will Hilaire die meiste Zeit präsent sein. Nicht zur Kontrolle oder Überwachung von Gastchoreografen, sondern um zu beobachten und reagieren zu können, wenn es irgendwo hakt: „Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme sind entscheidende Faktoren. Ich werde mir sicherlich 98 Prozent aller Vorstellungen ansehen, denn es tanzen unterschiedliche Besetzungen. Mich interessiert, wie die Tänzer wachsen – auch wenn ein Arbeitsprozess einmal abgeschlossen ist. Darin sehe ich einen Teil meines Jobs.“

Schon jetzt weht ein diszipliniert-gelassener frischer Wind durch die Gänge des Ballett-Probenhauses. Noch befindet man sich in der Kennenlernphase. Hilaire – hochgewachsen, drahtig, den Blick fokussiert und immer gern einen Scherz auf den Lippen – ist nicht angetreten, um das Ensemble zu revolutionieren oder die Teams im Hintergrund zu zerschlagen. Im Gegenteil: Hilaire will erst einmal mit allen, die engagiert sind, weiterarbeiten. „Step by step“, wie er sagt, geht das auch ohne Paukenschlag.