Das Lebenswerk eines Theaterkünstlers

Achim Freyer, FAUST-Preisträger 2022 für sein Lebenswerk, blickt im Interview zurück auf 70 Jahre seines Schaffens als Regisseur, Bühnenbildner, Kostümbildner, Maler und Filmemacher

aus Heft 11/2022 zum Schwerpunkt »Der Deutsche Theaterpreis DER FAUST 2022«

29DIE DEUTSCHE BÜHNE: Lieber Achim Freyer, den FAUST bekommen Sie für Ihr Lebenswerk als Theaterkünstler. Aber Ihr persönliches Lebenswerk geht weit über das Theater hinaus, da stehen bildende und dramatische Kunst gleichberechtigt nebeneinander. Es begann mit Puppentheater – und mit einem wissenschaftlichen Buch über europäische Schmetterlinge mit Originalzeichnungen von Ihnen. Eine doch eher erstaunliche Konstellation …

Achim Freyer: Das Buch habe ich mit 15 Jahren gemacht – es ist verloren gegangen, das ist sehr schade! Anders als die Avantgarde meiner Zeit fühle ich mich keineswegs erhaben über so ein genaues Nachbilden, für mich ist das vielmehr die Voraussetzung der Abstraktion. Ich habe das damals ohne jeden Anstoß gemacht, ich wollte das! Und tatsächlich wurde der Schmetterling zum Ausgangspunkt meiner Lust an der Form und an der Farbe. Ich wollte aber auch die Raupen und die Puppen zeichnen, weil darin ein Moment von Zeit enthalten ist: diese Metamorphose, dieses Überwintern und damit die Überwindung einer Jahreszeit. Da kann ich auch heute nur ausrufen: Welch ein großes Wunder! Damals wollte ich sogar Entomologe werden, aber dann haben alle gesagt: Mensch, du kannst doch so toll malen, das ist doch das, was du machen musst … Da habe ich mich mit Malerei beschäftigt und gemerkt, wie wichtig die Findung von Form und Farbe, von Rhythmus, von Harmonie und Disharmonie für unseren Alltag ist, für unsere Kleidung, die Gebrauchsgegenstände, die Architektur, das Stadtbild. Das erzeugt ja alles auch Lebensgefühle, die aber in der DDR überhaupt nicht funktioniert haben. Und weil ich das gezeigt habe, bin ich dann mit meinen Bildern sehr bald im Untergrund gelandet. – Insofern: Ja, der Schmetterling ist sehr wichtig für mein Lebenswerk!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Aber Sie haben auch früh Theater gespielt…

Achim Freyer: … mit Stabpuppen, die ich mir als Kind selber gebaut habe. Mit denen habe ich dann vor den Mädchen am Gartenzaun kleine Geschichten erzählt. Das waren so bemalte Wilhelm-Busch-Puppen, die das NS-Winterhilfswerk herausgegeben hatte, mit kleinen Nadeln zum Anstecken, die habe ich an einem Stöckchen befestigt und ihnen Kostüme gemacht. Später, als ich mit meinen Bildern niemanden mehr erreichen konnte, weil man mich entweder verboten hat oder unsere Ausstellungen nur von ganz wenigen besucht werden konnten – da habe ich gedacht: Dann mache ich mal Bühnenbild, damit die Menschen dadurch meine Bilder erfahren und auch meine Art des Mit-Dichtens kennenlernen. Das war ja immer mein Anliegen: Ich wollte mit meinen Bildern immer nur die eine Hälfte der Wahrheit zeigen und den Betrachter dazu bringen, sich die andere Hälfte selbst dazuzudichten. Da hat man mir dann nachgesagt, dass ich „Bildertheater“ mache. Ob’s nett gemeint war? Ich glaube eher nicht.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Im Westen, ab 1972, haben Sie auch zu inszenieren begonnen.

Achim Freyer: Mich hat geärgert, dass die Regisseure im Westen oft so unvorbereitet in die Proben kamen. Für Brecht war es etwas Heiliges, ein Stück zu machen, da wurden riesige Vorarbeiten geleistet. Aber im Westen haben die Regisseure ihre Ideen einfach so rausgehauen. Und sie hatten auch kein Verständnis für bildende Kunst, die entwickelten Theater nur über den Text. Und da habe ich gesagt: Dann mache ich’s lieber selber! Das ist auch ein Grund, wa­rum ich Musiktheater inszeniere: Das Großartige an der Oper ist, dass der Text in der Musik eine Paralleldichtung erfährt. Aber auch die visuelle Ebene muss eine Paralleldichtung sein, sie darf sich nicht in der Nachahmung des Textes erschöpfen. Sodass ich drei selbstständige Ebenen habe, die miteinander korrespondieren – das ist doch eine Sensation! Die Korrespondenz zwischen in sich autonomen Ebenen hat mich schon immer fasziniert. Hier im Kunsthaus der Achim Freyer Stiftung kann man sich ja neben meinen eigenen Werken auch meine Kunstsammlung anschauen. Da hängen Werke unterschiedlichster Künstler – Beuys, Giacometti, Miró, Penck, Warhol, Matisse, Picasso, Lichtenstein, Baselitz, Dalí, Chagall, Rauschenberg, Feininger, Niki de Saint Phalle – alle dicht an dicht. Ich habe sie intuitiv platziert, jedes besteht autonom für sich; und doch geraten sie durch dieses Miteinander in eine innige Kommunikation. So was findet man in keinem Museum!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Das wäre doch ein Begriff von Bildertheater, der Ihnen gefallen könnte: Theater, in denen das Bildnerische eine Kompetenz eigenen Rechts bekommt!

Achim Freyer: Ja, und zwar eine abendfüllende Kompetenz. Oder eigentlich sogar über den Abend hinaus. Ich habe ja, als Sie mich nach den Schmetterlingen gefragt haben, schon erwähnt, dass nach meiner Überzeugung das Bildnerische, also das Spiel der Formen und Farben, einen ganz großen Einfluss auf die Wahrnehmung unseres Alltags hat. Im Theater gehört zu dieser bildnerischen Welt auch der Gestus, der Abstand der Figuren zueinander, das Ta­bleau, die Körperhaltung. Das dann „nur“ als Ballett, „nur“ als Bildertheater abzutun, halte ich für kurzsichtig, ja für dumm. Das ist so eine Abgrenzung der Sparten und Disziplinen – das Wunderbare am Theater ist aber doch, wie das alles sich verbindet, zu einem Ganzen wird. Und das ist kein Selbstzweck, das wirkt in den Menschen weiter. Schon in der Antike war das Theater die komprimierteste, dichteste Menschheitsäußerung. Das war eine riesige Verhandlung des menschlichen Daseins. Diese Kraft hat das Theater noch immer.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie sind schon sehr früh prominent in Erscheinung getreten. Ruth Berghaus’ viel gerühmter „Barbier von Sevilla“ an der Berliner Staatsoper 1968 beispielsweise spielt in Ihrem Bühnenbild – da waren Sie gerade 33 Jahre alt.

Achim Freyer: Das war eigentlich eine Gemeinschaftsarbeit von Ruth Berghaus und mir. Ein Raum, der nur aus drei Tüchern besteht – da musste ich ihr erst mal erklären, was man damit anfangen soll. Und man kann doch tolle Sachen damit machen: Wenn da der Wind plötzlich diese Tuchwände bewegt, das sind doch wunderbare Sensationen! Heute verstehen das die Menschen, aber damals nicht, bei der Premiere gab’s ein Buh-Konzert. Und die Argumente dagegen waren so dumm, zum Beispiel, dass die Titelfigur einfach weiß bleibt, während die Figuren drum herum viel bunter sind. Ja, klar: Weiß ist auch die Farbe der Wände, die Farbe Sevillas, das soll gar keinen Kontrast zur Hauptfigur bilden – weiß ist die Hauptfigur, das ist doch der Barbier von Sevilla. Im Weiß ist jede Farbe vorhanden – Weiß ist das Zen­trum! Und dieses Zentrum ist offen für alles. Die Zuschauer können sich in dieser Figur sehen und ihre Umgebung in dieser Bühne. Diese Bühne ist ein metaphysischer Raum, den die Zuschauer mit ihren Gedanken bespielen können.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie lieben diese metaphysische Offenheit, Ihre Kunst verkündet keine Lehre.

Achim Freyer: Ich habe ja viel gelehrt, aber doch nicht im Theater, um Gottes willen, sondern an der Uni, mit meinen Studenten. Aber ehrlich gesagt: Meine Studenten habe ich vor allem gelehrt, keiner Lehre zu folgen. Und das ist ja einigen ganz gut gelungen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Trotz Ihrer Erfolge sind Sie sehr bald auch mit Ihrem Bühnenschaffen in Konflikt mit der Kunstdoktrin der DDR geraten …

Achim Freyer: „Geraten“ ist ein gutes Wort dafür. Ich habe das keineswegs beabsichtigt, denn ich fand den Sozialismus als Idee sehr aufregend und hätte mit dem Einfluss meiner Bilder gern daran mitgewirkt. Aber das war natürlich naiv und nicht zu machen. So wurde ich in die Rolle eines Gegners gedrängt, obwohl ich immer anerkannt habe, was der Sozialismus in seinem Wesen bedeutet und was er versprach.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Dennoch: 1972 nutzten Sie ein Italiengastspiel mit der Volksbühne Berlin zur „Republikflucht“, wie das damals hieß. Sie mussten viele Freunde zurücklassen …

Achim Freyer: Das war hart! Ich bin noch einmal zu allen gegangen und habe – ohne zu verraten, was ich vorhatte! – jeden gefragt: Welche Hoffnung hast du für deine Kunst, für unsere Kunst in diesem Staat? Und ich habe keinen einzigen Hoffnungsschimmer entdecken können. Bei keinem! Und da dachte ich: Ich muss gehen, oder ich verkümmere. Aber es war für mich sehr schwer, mir vorzustellen, wie ich in einer neuen Welt künstlerisch weiterleben würde. Meine Abstraktion, die in der DDR radikal und streng war – die habe ich plötzlich in der amerikanischen Malerei wiedergefunden. Ich habe ja viel mit Reihungen gearbeitet, weil mich das Thema „Der Mensch in der Masse“ interessierte. Aber dieses serielle, abstrakte Malen, das gab es im Westen längst, hier rannte ich offene Türen ein. Im Westen hatten selbst die Tankstellen die Modernität meiner Bilder, selbst auf den Dörfern waren die Häuser weiß getüncht, mit schwarzem Fachwerk. In der DDR hatten wir ja diese wohltuenden Erdfarben. Diese Brauntöne und die Natur, das habe ich im Westen vermisst, da war alles so sauber gemacht, so domestiziert – also habe ich im Westen begonnen, die Reste von Objekten in diesen Farben zu sammeln, um deren Lebendigkeit zu retten. So bin ich zu meinen Collagen gekommen. Das war ein Riesensprung in meiner Arbeit.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Kurz vor Ihrer Flucht konnten Sie in einer Ausstellung im Kernforschungszentrum Rossendorf bei Dresden Ihre Kunst noch einmal in der DDR präsentieren – praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn in dieses Forschungszentrum durfte ja niemand rein.

Achim Freyer: Da durfte nur die Belegschaft des Betriebs rein, ja, etwa 100 Leute. Aber meine Freunde Hermann Glöckner, Adolf Dresen, Friedrich Goldmann und wie sie alle heißen, die waren alle da, Penck kam in kurzen Hosen – das war eine schöne Eröffnung! Da konnte man all die Bilder, die jetzt hier im Kunsthaus der Achim Freyer Stiftung hängen, noch mal sehen – zum Schock der Belegschaft, die wütende Leserbriefe schrieb. Aber da war auch ein Radiochemiker, ein Dr. Eberhard Gäbler, der Kulturabgeordnete dieses Betriebes, der war völlig begeistert. Und als ich in den Westen ging, da hat er beim Rat der Stadt angefragt, ob er nicht die Zeichnungsschränke in meiner Berliner Wohnung haben könne, die könne er als Radiochemiker gut gebrauchen. Und die haben gesagt: Ja, kann er, wenn er auch den ganzen anderen Ramsch, auch meine gesammelten Werke anderer Künstlerfreunde, rausräume und die Wohnung besenrein mache. Und da hat er dann all das in seine Einzimmerwohnung im Prenzlauer Berg getragen und dort über Jahre in aller Enge damit gelebt. Als die Mauer gefallen war, bekam ich einen Anruf von ihm: „Lieber Herr Freyer, es wäre schön, wenn Sie Ihre Bilder mal bei mir abholen würden.“ Sie können sich vorstellen, was für eine Freude das für mich war! Ohne ihn wären viele der Kunstwerke jetzt nicht hier!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Kurz vor Ihrer Flucht gab es auch noch den „Clavigo“-Skandal am Deutschen Theater.

Achim Freyer: Mir wurde vorgeworfen, dass meine „Clavigo“-Kostüme „Hippie- und Popkunst“ verkörperten. Ich habe in diesen Kostümen so geblümte Motive verwendet, wie ich sie in der Kleidung der einfachen Leute in der DDR gefunden hatte, nur viel bunter. Und da hat Hanns Anselm Perten, der damals für kurze Zeit Intendant des Deutschen Theaters war, den Regisseur Adolf Dresen zu sich zitiert und gesagt, dieses Bühnenbild und diese Blumenkinderkostüme – das könne so nicht bleiben, und den Freyer müsse man rausschmeißen!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was war denn so schlimm an den Blumenkindern?

Achim Freyer: Es gab damals in der DDR die Konvergenztheorie, wonach der Westen versucht, die DDR heimlich mit seiner Ideologie zu unterwandern und vom sozialistischen Ideal abzubringen. Deshalb wollte der Perten mich weghaben. Aber als er dann einen anderen Bühnenbildner suchte, haben sich alle geweigert, das zu machen, aus Solidarität mit mir! Und am Ende sollte ich es dann selber ändern und habe gesagt: Ja gut, jetzt mache ich alles schwarz-weiß – was natürlich noch viel subversiver war nach dieser Vorgeschichte. Im Anschluss kam dann das Italiengastspiel. Und da habe ich erlebt, wie dort in den Kneipen die Dozenten lauthals mit ihren Studenten über politische Themen diskutiert haben, während ich ja immer ganz leise spreche, weil ich in der DDR immer aufpassen musste, dass nicht der Falsche zuhört – und da habe ich gedacht: Nee, du kannst dahin nicht wieder zurückgehen!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: In das Jahr 1972 fällt auch Ihr Besuch in Colmar, um den Isenheimer Altar im Original zu sehen. Das hat Sie sehr beeindruckt.

Achim Freyer: Ich habe immer diese Sehnsucht, dass mir etwas, das ich mir nicht erklären kann und mich dennoch durch mein Leben begleitet, durch Kunst plötzlich deutlich wird – weil sie mich befreit von Klischees oder alltäglichen Ablenkungen. Und dieses Etwas ist das Moment der Romantik in unserer Gesellschaft. Wir sind immer noch eine kapitalistische Gesellschaft – so sehr, dass wir das gar nicht mehr bemerken, weil es so selbstverständlich erscheint. Deshalb können wir das auch nicht mehr stoppen oder wirkungsvoll kritisieren. Aber ein künstlerisches Moment, das dennoch gegen den Kapitalismus opponiert, ist für mich diese Romantik. Ich hatte immer den Eindruck, dass der Isenheimer Altar diese Romantik – im Vorgriff auf die historische Romantik – in unvergleichlicher Weise zum Ausdruck bringt. Und dieses Moment wirkt fort, über Caspar David Friedrich bis hin zu Oskar Schlemmer. In diesem Sinne sind auch Jeff Koons oder Damien Hirst für mich romantische Künstler.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Es gibt ja in der Frühromantik tatsächlich eine linke, antibürgerliche Strömung, die heute kaum noch wahrgenommen wird.

Achim Freyer: Ja, aber ich meine damit nichts Historisches, sondern eher so eine Haltung, die Abstand nimmt zu dieser Dominanz der Technik, die sich immer schneller entwickelt, zum Kapitalismus, der immer wilder wird. Das finde ich in der Kunst von Timm Ulrichs, von Gerhard Richter und bei vielen heutigen Künstlern.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Ihre Distanz zur linientreuen DDR-Kunst wurde 1977 auf der Documenta 6 nachträglich sehr deutlich. Dort wurden ja etablierte Künstler der DDR wie Werner Tübke, Bernhard Heisig oder Willi Sitte gezeigt – aber auch Ihr Environment „Deutschland, ein Lebensraum“, das man eher im Kontext von Joseph Beuys als im Dunstkreis der gezeigten DDR-Künstler verorten würde.

Achim Freyer: Na – es hat mich schon erschreckt, dass die, vor denen ich geflohen bin, da auftauchen durften. Aber mich hat dennoch diese Geste der Toleranz überzeugt, auch die Kunst des anderen Deutschlands zeigen zu wollen. Nach künstlerischen Kriterien war ich aber nicht davon überzeugt. Und mich hat entsetzt, mit welcher Arroganz sie da aufgetreten sind. In ihrem festen Glauben an die Ideologie ihres Staates hielten die sich für viel klüger als die westlichen Kollegen. Und ich hatte damals auch den Eindruck, dass umgekehrt die westlichen Künstler keine Ahnung davon hatten, wie tief die ideologische Durchdringung der DDR-Kunst geht.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie haben vorhin erzählt, wie die Flucht zu einem Einschnitt in Ihrem Werk als bildender Künstler wurde. Im Theater findet man
Sie schon bald an der Seite von Claus Peymann wieder.

Achim Freyer: Der hatte den Schwarz-Weiß-„Clavigo“ in Berlin gesehen und mich dann nach der Flucht sofort gefragt, ob ich mit ihm arbeiten will. Und der gefiel mir. Er war damals so ein studentischer Regisseur mit politisch wachen linken Ideen, er hatte immer ’ne Cordhose an, so einen Schnauzbart, einen dicken Bauch – eine interessante Figur!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Im Westen habe Sie sich intensiv mit Werken des zeitgenössischen Musiktheaters auseinandergesetzt, von Philip Glass, Dieter Schnebel, Luca Francesconi, Salvatore Sciarrino, Lucia Ronchetti, John Cage …

Achim Freyer: Das war ein weiterer Grund, warum ich den Westen wollte. In Zeuthen hatte ich häufig Paul-Heinz Dittrich besucht, er war einer der avantgardistischen Komponisten, die aufgrund ihres künstlerischen Mutes isoliert waren. Nebenan wohnten Paul Dessau und die Berghaus – aber ich bin rübergegangen zu Dittrich und habe mir bei ihm die tollen Musiken aus dem Westen angehört: Dieter Schnebel, Mauricio Kagel, John Cage. Und als ich dann geflohen war, habe ich unbedingt mit diesen Komponisten arbeiten wollen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: In den 1980er-Jahren gab es eine ganze Serie wichtiger Ausstellungen des bildenden Künstlers Achim Freier – und 1988 die Gründung des Freyer Ensembles als freie experimentelle Theatergruppe.

Achim Freyer: Das war die Folge eines existenziellen Erlebnisses: Hier in Berlin habe ich eine Giacometti-Ausstellung gesehen, es war Winter, die Figuren standen so im Raum, die Besucher hatten schwarze Kleidung an, und diese Anordnung von Kunstwerken und Betrachtern, dieses Tableau, das war so überzeugend für mich, dass ich gesagt habe: Ich kann jetzt kein Theater mehr machen, ich kann nur noch malen! Da habe ich mich entschlossen, alles, was ich noch an Kostümen und Versatzstücken zusammenbringen konnte, einzusammeln. Damals, 1987, habe ich die „Metamorphosen“ des Ovid am Burgtheater gemacht, die sollten eigentlich 24 Stunden dauern, aber das ließ sich dann nicht machen. Parallel hatte ich das Angebot, einen Musikfilm zu machen. Und da habe ich mir dann einen großen Bus gemietet, habe all die Darsteller, Tänzer, Musiker und Komparsen, die ja ohnehin bei den „Metamorphosen“ im Burgtheater versammelt waren und die mich schon durch viele Inszenierungen begleitet hatten, eingeladen und habe sämtliche Kostüme und all die Sachen, die ich ja nicht mehr fürs Theater brauchte, zusammengesucht. Und dann sind wir losgefahren, und ich habe nach meinem inneren Drehbuch an verschiedenen Orten Szenen gedreht. Ich hatte diese Reise schon ein Jahr zuvor gemacht und mir dabei die Lichtverhältnisse zu einer bestimmten Tageszeit genau notiert, sodass wir immer gleich loslegen konnten. Da wir die Musik erst später einspielen wollten, konnten wir uns so richtig frei ausleben, es ging da sehr turbulent zu. So entstand der Film „MET AMOR PH OSEN“: mein Abschied vom Theater, in dem alle meine Arbeiten noch mal wieder auftauchten. Das Ensemble dieses Films war die Urzelle des Freyer Ensembles, mit dem ich dann verschiedene Projekte gemacht habe …

DIE DEUTSCHE BÜHNE: … und mit dem Sie doch wieder beim Theater gelandet sind.

Achim Freyer: Das war meine Inkonsequenz! Ich hatte den Eindruck, dass wir alle so gut zusammengearbeitet haben, da mussten wir einfach wieder ein Ensemble gründen. Wir wollten den Zwängen der Stadttheater entgehen – und am Ende waren wir wieder am Theater.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: War es neu für Sie, Film zu machen?

Achim Freyer: Nicht ganz. Es gibt doch diesen berühmten DEFA-Zeichentrickfilm „Das tapfere Schneiderlein“ von 1964. Damals führte Kurt Weiler Regie, aber das Szenenbild und die Figuren sind von mir. Das Tolle beim Film ist: Ich kann das erst mal szenisch machen – aber im Schnitt dann noch mal ganz neue Akzente setzen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Ein Höhepunkt Ihrer Arbeit im zeitgenössischen Musiktheater war 1997 die Uraufführung von Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Hamburgischen Staatsoper – mit den Akteuren des Freyer Ensembles!

Achim Freyer: Das war eine wunderbare Begegnung mit dem Lachenmann! Dadurch, dass das Werk noch gar nicht fertig war, als wir mit der Arbeit begonnen haben, konnten wir beim Inszenieren sehr viel gemeinsam zu Ende entwickeln. Und das hat mich ja immer gereizt: so einen Klangraum zu schaffen, in dem sich diese neue Musik entfalten kann. Das war damals in Hamburg wunderbar möglich, aber auch bei „Esame di Mezzanotte“ von Lucia Ronchetti 2016 in Mannheim …

DIE DEUTSCHE BÜHNE: … wofür Sie den FAUST für Bühne und Kostüme bekommen haben …

Achim Freyer: … ja, richtig – das war in dieser Hinsicht auch eine wunderbare Arbeit. Das liegt sicher daran, dass ich in beiden Fällen, sowohl bei Lachenmann wie auch bei Ronchetti, die Musik einfach sehr mag. Die ist wirklich großartig!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was mir in Ihren Arbeiten auffällt, das ist so ein Zug, hinter den konkreten Figuren und ihren Geschichten etwas Allgemeingültiges herauszuarbeiten, bestimmte Archetypen vielleicht, in denen sich die Zuschauer dann wiedererkennen. Könnten Sie sich in dieser Beschreibung wiederfinden?

Achim Freyer: Wenn ich es nicht selber benennen muss: Ja! Ich strebe natürlich nach einer Universalität der Figur, nach einem eigenen Kosmos, der eine Welt verkörpert, die mit unserer Welt nicht deckungsgleich ist, aber dennoch mit ihr korrespondiert und sie dadurch erlebbar macht. Trotzdem muss dieser Kosmos auch konkret sein, er darf nicht leer bleiben, denn sonst könnte der Zuschauer darin ja auch nichts finden. Er muss den Zuschauer herausfordern, sich selbst darin zu entdecken. So ist das ja auch mit den Mythen: Mythen sind universell. Aber kein Mythos kann entstehen ohne das Individuum, das ihn erfährt.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Vor diesem Hintergrund hat es mich immer gewundert, dass Sie so spät zu einem Komponisten gefunden haben, der Ihnen darin ähnlich ist: Richard Wagner.

Achim Freyer: Ja – das hat mich auch gewundert! „Tristan und Isolde“ 1994 an der Opéra de la Monnaie in Brüssel: Das war mein erster Tribut an Wagner. Vielleicht war das auch der Einfluss von Brecht, der mich von Wagner ferngehalten hat. Aber in Brüssel war ich durch die Arbeit mit dem Dirigenten Antonio Pappano sofort verführt, weil er diese Musik so wunderbar dirigiert hat. Damals hatte ich allerdings noch nicht die gesellschaftlichen Aspekte jenseits der menschlichen Konflikte entdeckt, die ja bei Wagner eine so große Rolle spielen. Trotzdem ging mir der „Tristan“ nach. Es gab später dann den Plan, dass ich am Broadway die „Dreigroschenoper“ mit Madonna machen sollte. Und da habe ich in einem Interview in den USA irgendeine Bemerkung über meine Arbeit am „Tristan“ gemacht. Und da kam plötzlich Edgar Baitzel, der damalige Chef der Los Angeles Opera, auf mich zu und sagte: „Lass die Madonna, das ist doch nichts für dich! Mach lieber bei uns den ,Ring‘!“ Das habe ich dann 2009/10 gemacht, es war eine gute Entscheidung! Diese Tetralogie ist ja von Anfang bis Ende aufgeladen mit den großen gesellschaftlichen Fragen. In Siegfried, der ohne Furcht, nur im Vertrauen auf das, was er kann, zugleich aber auch fast dumm durch die Welt geht, konnte ich uns selbst, unsere Gegenwart wiedererkennen. Das sind wir alle! Ich habe wahnsinnig an der Siegfried-Figur gearbeitet, damit sie das erzeugt: dass ich mich als Zuschauer in ihr erkenne!

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie blicken zurück auf ein un­glaublich reiches Œuvre. Was ist die Quelle dieses Reichtums?

Achim Freyer: Ich lebe und ich leide und genieße, ich werde überrascht und werde enttäuscht, und alles hinterlässt Spuren, die ich nicht auslöschen kann und auch nicht will. Das sind die Anregungen für die Arbeit. Wenn ich nicht über mich erzähle in einem Werk, dann ist es auch nicht mein Werk. Oft muss ich lange arbeiten, bis es auch wirklich mein Werk wird. Aber erst dann weiß ich, dass ich die Wahrheit sage. Mehr kann ich nicht tun – ich will ja niemandem Vorschriften machen. Ich kann nur dieses Angebot machen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Gibt es bestimmte Leitmotive, die Sie durch all die Jahre begleitet haben?

Achim Freyer: So wie einem Lebewesen kein Glied seines Körpers fehlen sollte, weil es dann leidet oder nicht mehr weiterleben kann, so träume ich immer von einem Reich des Menschlichen, wo alle Glieder gleichberechtigt koexistieren können. Und ganz persönlich habe ich immer die Sehnsucht, ruhig schlafen zu können, wenn ich eine Arbeit fertiggestellt habe. Wenn ich ein Werk, eine Arbeit abgeben muss mit dem Gefühl, dass ich damit nicht fertig geworden bin, dass da irgendetwas nicht stimmt, was ich nicht vertreten kann – das quält mich furchtbar! Denn ich bin dem, was ich abliefere, doch immer sehr eng, organisch verbunden. Jede Arbeit ist ein kleiner Schritt mehr auf dem Weg zur Tür der Erkenntnis. Wobei ich nicht glaube, dass ich da jemals durchgehen werde. Aber auf dem Weg dorthin zu sein – das ist nicht das Schlechteste!